Da hat die Leseprobe doch ihre Funktion erfüllt – ich wollte „Ein Festtag“ von Graham Swift unbedingt zu Ende lesen. Hab ich gemacht. Und es hat sich gelohnt.
Die Geschichte ist eigentlich simpel: Ein junger Adliger hat seit Jahren ein Verhältnis mit einem Dienstmädchen und muss in zwei Wochen aus Standes- und finanziellen Gründen eine andere heiraten. Doch es kommt nicht nur anders, als alle im Buch das denken und planen, es ist schon anders. An dem Tag, an dem Festtag (das Original benennt den Festtag als „Mothering Sunday“ – der Muttertag in Teilen Englands, auch des frühen 20. Jahrhunderts – Sonntag Lätare, im liturgischen Kalender) darf Jane durch den Haupteingang gehen, ihr Fahrrad einfach am Eingang stehen lassen. Sie trifft sich mit Paul in seinem Zimmer. Beiden ist klar, dass es das letzte Mal ist – nach der Hochzeit wird ihr Verhältnis ein Ende haben.
Das Besondere ist nun, wie Graham Swift Janes Gedanken folgt – assoziativ reihen sie sich aneinander. Immer wieder rekurrieren sie auf ihr späteres Leben, auf ihr hohes Alter, das sie erreichen wird. Einerseits haben wir da eine erzählende Instanz – und die bringt in manchen Stellen die Idylle im Zimmer, an einem Märztag, der warm wie ein Junitag war, ins Taumeln. Ziemlich genau in der Mitte erfahre ich als Leserin, die ich mir Gedanken gemacht habe, wie es mit Paul und Jane weiter geht, etwas, von dem Jane an diesem Mothering Sunday 1924 noch keine Ahnung hat – und damit wird meine Aufmerksamtkeit gegenüber den assoziativen Gedankenreihen völlig verändert, ja, ich möchte unter diesem neuen Aspekt die erste Hälfte gleich noch mal lesen und schauen, wo da Informationen für die spätere Sicht auf das Geschehen versteckt sind. Tu ich aber nicht – erst muss ich wissen, wie es weitergeht.
Bei aller Sinnlichkeit, bei aller Detailfreude am Erotischen, an der Spannung, unausgesprochen zwischen zwei Menschen, die gerade miteinander geschlafen haben, ist die Beobachtungsgabe von Jane von Anfang an bemerkenswert. Sie bertrachtet den nackten jungen Mann und sich selber, neue Wörter fallen ihr ein, Wörter, die nicht zu einem einfachen Dienstmädchen passen, wie „seine Augen an etwas weiden“ (S. 11). Die bewusste Parallelsetzung von Körper und Landschaft in derselben Szene:
Sie lag ausgestreckt auf dem Bett, nackt, von einem Paar billiger Ohrringe, ihrem einzigen Paar, abgesehen (…)
Draußen lag, ebenfalls ausgestreckt, die Grafschaft Berkshire, gegürtet mit hellem Grün, von Vogelgesang erschallend, im März mit einem Junitag gesegnet. (S. 11)
Nebenbei macht Graham Swift die Zeit um 1920 lebendig – ihre vergleichsweise Beschaulichkeit, mit den ganzen Abgründen, mit den Nachwirkungen des Großen Krieges, der so viele junge Männer das Leben kostete – die Söhne von Janes Arbeitgeber, die Brüder ihres Liebhabers. Unaufdringlich lässt er diese vergangene Welt lebendig werden und zeigt ihre Zerbrechlichkeit und damit die Zerbrechlichkeit menschlicher Ziele und Wünsche. En passsant entfaltet sich, mit einer Bemerkung hier und einer dort, das Leben einer ungewöhnlichen Frau, die, so alt wie das 20. Jahrhundert, ihren Weg vom Waisenkind zur viel interviewten Schriftstellerin ging, der Sprache so wichtig war, das Beschreiben, das Behalten, das Zurückhalten. Ein Kunstwerk.
Graham Swift: Ein Festtag, übersetzt von Susanne Höbel, dtv, München, 2017, ISBN: 9783423281102
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