Was für ein tolles Buch! Philipp Blom zeichnet hier die Jahre 1900 bis 1914 in Europa nach. Jedes Jahr hat ein Kapitel und ein Schwerpunktthema. Frauenbild, Maschinen, Kolonialismus und politischer Mord zum Beispiel – und nein, bei letzterem handelt es sich nicht um den von Sarajewo, auch wenn Blom im Juli 1914 in das Thema einsteigt.
Es hat gar keinen Sinn, einzelne Aspekte nachzuerzählen – Blom zeigt auf, wie die einzelnen Aspekte des modernen Lebens zu Beginn des letzten Jahrhunderts miteinander verschränkt sind. Das ist einerseits sehr komplex, andererseits gut zu lesen und nachzuvollziehen. Der Beginn der Moderne, wie wir sie kennen (und Sie können sicher sein, dass Sie sich bei einigen Sachen fragen: „Wieso 1910? Das ist doch ganz aktuell.“) liegt nach Auffassung Bloms genau in der Zeit des ersten Jahtrzehnts plus minus ein paarJahre nach 1900. Elektrifizierung, Motorisierung, Aufrüstung, Geschwindigkeit, Feminismus, Psychoanalyse, Nationalismus und Rassismus gingen eine Allianz ein, deren eine Folge Krieg hieß. Menschen, die um 1900 erwachsen waren, hatten Großeltern, die noch im Ancien Régime geboren waren und deren Enkel die Mondlandung erleben würden.
Philipp Blom kann natürlich seine Zeit in seinem Schreiben nicht völlig außen vor lassen, versucht aber, in den Passagen, in denen es um das Erleben der Menschen der erzählten Zeit geht, das spätere Wissen auszublenden. So ermöglicht er eine Zeitreise – und gleichezitig einen anderen Blick auf unsere Zeit, denn viele Probleme, die er so schildert, wie die Zeitgenossinnen sie erfahren haben, könnten exakt so in heutigen Zeitschriften, Büchern oder Tageszeitungen stehen.
Ich habe mir eine Menge Markierungen in das Buch gemacht, um zu bestimmten Themen nochmal was nachzulesen – bei rund 470 Seiten dichter Informationen ist es nicht leicht, zu einem Thema alle Aspekte im Kopf zu behalten, auch wenn Blom immer mal wieder vor- und zurückverweist.
Ich finde das Buch großartig – habe ich ja gleich zu Beginn geschrieben – und auch eine spannende Ergänzung zu Illies‘ 1913. Während Illies sich auf Kultur- und Geistesgeschichte beschränkt, nimmt Philipp Blom alle Aspekte der Gesellschaft von 1900 bis 1914 in den Blick. Die Literaturliste am Ende umfasst 24 engebedruckte Seiten; darunter sind 24 Zeitungen und Zeitschriften als Primärquellen genannt. Ein unglaubliche Informationsfülle! Und die hat der Autor wirklich gut lesbar und erhellend aufbereitet und dargeboten. Absolut empfehlenswert!
Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2011, ISBN: 978-3423346788
Das Buch finden Sie auch in der Stadtbibliothek Köln.
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