Die seltsamsten Menschen der Welt von Joseph Henrich

Die seltsamsten Menschen der Welt von Joseph Henrich

Was meinen Sie, wer zu den seltsamsten Menschen der Welt gehört?

Indigene im Amazonas-Gebiet?

Verschleierte Männer in Nordafrika?

Nee – das sind wir. Der „Westen“.

Behauptet zumindest Joseph Henrich – und das in einem Buch von mehr als 700 Seiten.

Wie lautet Joseph Henrichs Theorie zu den seltsamsten Menschen der Welt?

Erst einmal rückt er mein Weltbild zurück. Was uns hier im Westen, in industrialisierten Staaten „normal“ erscheint, ist die Ausnahme. Den größten Teil der Menschheitsgeschichte haben Menschen völlig anders gelebt. Unsere Form gibt es erst seit rund 500 Jahren und die Wurzeln reichen noch mal rund 1.000 Jahre zurück.

Ich versuch mal ’ne Kurzfassung:

Eine Gruppe der christlichen Sekten hatte ein bestimmtes Bild von Familie vor Augen – nicht die Groß-, sondern die Kernfamilie. In den Kontext gehören

  • Verbot von Verwandtenehen (Ehen unter Cousins/Cousinen, Geschwister-Ehe, Onkel-Ehe, Levirats-Ehe und was es sonst so gibt)
  • Monogamie als Ideal
  • Erbrecht nur für legitime Kinder/Söhne
  • Ablehnung von „Vetternwirtschaft“, also Bevorzugung von Menschen, die im weitesten Sinne zu Verwandtschaft gehören

Das alles sind Merkmale verwandtschaftsbasierter Gruppen und Gesellschaften.

Die Folgen waren gelockerte Familienbande:

  • Söhne und Töchter lebten nicht mehr in unmittelbarer Nachbarschaft und unter der Ägide des Familienoberhauptes (residentiell mobil heißt es dann immer im Text)
  • Familien konnten aussterben – Cousins waren nur teilweise erbberechtigt; es galten nur „legitime“ Nachkommen
  • Wer woanders lebt als die Familie, muss Handel mit Fremden treiben – „unpersönliche Prosozialität“ ist das Stichwort
  • Wem der Beruf nicht von der Familie diktiert wird – Tradition, Nachfolge -, kann sich selber einen suchen

Die Vorschriften der westlichen Kirche, die sich aus der oben erwähnten Sekte entwickelte, und die gesellschaftlichen Strukturen entwickelten sich miteinander und verstärkten einander. Das hatte dann Auswirkung auf die Psychologie der Gesellschaft. Und die ist der entscheidende Punkt in der Entwicklung der seltsamsten Menschen der Welt.

Grafik mit 7 Kästen, die untereinander mit Pfeilen verbunden sind, beshrifte mit A bis G
Diese Grafik steht ziemlich am Ende des Buchs und zeichnet die Entwicklungen nach, die Joseph Henrichs Meinung nach zu den seltsamsten Menschen der Welt geführt haben (S. 518)

Ein wichtiger weiterer Faktor

Ähnlich wie es Tim Marshall in seinem Buch „Die Macht der Geographie“ schildert, ist auch hier die Geographie wichtig. Ich hab mir das nie so bewusst gemacht – aber in den gemäßigten Breiten gibt es vom Atlantik bis zum Pazifik eine Landverbindung. Die ermöglicht Handel und Austausch. Das hat es bereits sehr früh gegeben. Schauen Sie mal bei prähistorischen Ausgrabungsberichten – die Handelsnetze waren auch zu der Zeit schon sehr weitverzweigt.

Während noch im 12. und 13 Jahrhundert die islamischen und asiatischen Gesellschaften in Sachen Wissenschaft und Zivilisation vorne mitspielten, änderte sich zu Zeiten der Renaissance einiges. Ungefähr ab 1500 entwickelten sich die Gesellschaften, die unter den Bedingungen der Kirche entstanden waren, schlagartig weiter. Joseph Hendrich macht deutlich, dass die verwandtaschaftsbasierten Strukturen nur bis zu einer gewissen Größe funktionieren. Das war bei den schon etwas sonderbaren Menschen anders – ihre psychologischen Grundlagen erlauben ihnen, mit Außsenstehenden vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Das schuf die neuen Gesellschftsformen.

Zu den Voraussetzungen gehörten:

  • Freiwillige Zusammenschlüsse von Menschen, als da wären
    • Städte
    • Gilden und Zünfte
    • Geistliche Orden
  • Stärkere Wertschätzung individueller Eigenschaften und Rechte
  • Allgemein gültige Rechte für alle, unabhängig von der Abstammung

Wie belegt Joseph Henrich seine Theorien?

Mit unglaublich viel statistischem Material aus Feld- und Laborstudien unterschiedlicher Fachbereiche.

  • Anthropologie
  • Ethnologie
  • Psychologie
  • alle Unterarten von Sozialwissenschaften

Und das lässt sich auch von Menschen wie mir gut lesen, die von Statistik null Ahnung haben. Ich vertraue dann natürlich auch einfach dem, was der Autor schreibt. Ich weiß nicht, wie man aus statistischem Material bestimmte Faktoren so behandelt, dass die restlichen Daten vergleichbar sind. Ich weiß aber, dass es solche Methoden gibt – und wenn er schreibt, sie hätten die angewendet – gut.

Er nimmt übrigens auch gern mögliche Einwände, um sie dann zu widerlegen oder zumindest abzuschwächen.

Er geht von den Basics aus:

  • Was macht Menschen aus?
  • Was, wie und warum lernen Menschen?
  • Wie unterscheiden sich Menschen aus familienzentrierten Gesellschaften von denen aus „sonderbaren“? (Eine Antwort: UN-Angehörige in New York, die aus Gesellschaften mit eher familienbasierten Strukturen stammen, bekommen ca. 10 bis 100 mehr Strafzettel fürs Falschparken als die aus sonderbaren Gesellschaften …)

Es ist ein komplexes Buch – doch Joseph Henrich schafft immer wieder den Bezug zurück zu früheren Kapiteln, ruft sehr gut in Erinnerung, was er schon belegt hat. Und manchmal gerät er auch in einen Plauderton. Es lässt sich also gut lesen.

Ich habe das Buch mit großer Faszination gelesen.

Ach ja, im Buch nutzt er das Wort „sonderbar“ als Kürzel für die Art von Menschen und Gesellschaften, um die es ihm geht. Im Englischen steht da „weird“ und das nutzt er als Akronym für „western (westlich), educated (gebildet), industrialized (industrialisiert), rich (wohlhabend, reich) und democratic (demokratisch)“ (Quelle: Wikipedia, bezieht sich auf das Joseph Henrich und seine Thesen!)

Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde, übersetzt von Frank Lachmann und Jan-Erik Strasser, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, E-Book ISBN: 9783518772546

Die Stadtbibliothek Köln hält der E-Book und das Buch bereit

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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