The Murder of Mr Wickham von Claudia Gray

The Murder of Mr Wickham von Claudia Gray

Im Buch von Claudia Gray geht es also Mr Wickham an den Kragen – doch wie macht sie das?

Gleich zu Anfang gibt sie eine Erläuterung zur Chronologie ab – also, wann ihr Buch spielt und wie sie das jeweilige Alter ihrer Protagonist*innen begründet. Sie geht von den Schreibdaten Austens aus:

Da folgt dann Northanger Abbey direkt auf Pride & Prejudice, auch wenn es erst nach Austens Tod publiziert wurde. Bei Sense & Sensibility schummelt sie ein bisschen. Auf jeden Fall ist Marianne deutlich jünger als die anderen Protagonistinnen, die in Austens Welt vorkommen, wenn das Geschehen auf 1820 festgesetzt wird.

Worum geht es?

Claudia Gray versammelt in ihrem Buch fast alle Helden und Heldinnen aus Austens Büchern:

  • George und Emma Knightley, als Gastgeber*in
  • Fitzwilliam und Elizabeth Darcy mit ihrem 20-jährigen Sohn Jonathan als alte Freunde – Studienfreunde, um genau zu sein (also: die Männer 😉)
  • Anne und Frederick Wentworth als Mieter von Emmas Vaterhaus – zurzeit leider in Renovierung, deshalb unter Knightleys Dach
  • Oberst Christopher und Marianne Brandon, weil Emma die junge Frau ihres Cousins kennenlernen will
  • Edmund und Fanny Bertram nehmen genau jetzt eine schon länger bestehende Einladung an, die George Knightley seinem Vetter gegenüber ausgesprochen hat
  • Juliet Tilney ist die Tochter der Romanautorin Catherine Tilney, mit der sich Emma in Bath angefreundet hat – die Siebzehnjährige war noch nie außerhalb von Gloucestershire und soll nun ein bisschen Gesellschaftsluft schnuppern

Da Haus ist also voll.

Und dann platzt am ersten Abend Mr. Wickham rein – bei wirklich heftigstem Regen. Und obwohl ihn wirklich niemand da haben will, kann man ihn schlecht vor die Tür setzen. Auch am nächsten Abend ist er noch da, da das Wetter alle Straßen unpassierbar gemacht hat.

In der Nacht ist viel Leben im Haus – Türen gehen, Leute sind nachts unterwegs. Nur von Jonathan und Juliet weiß ich als Leserin, was sie genau getan haben.

Juliet findet mitten in der Nacht die Leiche von Mr. Wickham – und alle sind verdächtig.

Ein klassischer Whodunnit

Im Laufe der Krimi-Handlung wird klar, dass in jeder Familie jemand ist, dem daran gelegen sein könnte, dass dieser Eindringling auf immer verschwindet.

Frank Churchill, der inzwischen verwitwete Friedensrichter (sein Titel „magistrat“ ist als Titel für Friedensrichter seit dem 16. Jahrhundert bezeugt) geht anfangs davon aus, dass es entweder „Zigeuner“ oder jemand aus der Dienerschaft gewesen sein muss (Claudia Gray erläutert in ihrem Vorwort die Nutzung des Wortes „gypsies“ als den Begriff, denn die Menschen der Regency-Ära benutzten). Juliet und Jonathan sind sicher, dass das eine ungerechtfertigte, vorurteilsbeladene Sicht ist und ermitteln auf eigene Faust.

Die Auflösung ist sehr befriedigend auf der einen und etwas skurril auf der anderen Seite – ich werde da jetzt nichts spoilern.

Warum nenne ich das Buch von Claudia Gray keinen Krimi?

Ich habe das Buch in erster Linie unter „Historisches“ eingeordnet, weil ich bei meiner Lektüre ganz klar den Fokus auf den Aspekten hatte, die die damalige Situation thematisieren:

  • Gesellschaftliche Vorgaben, z. B., dass junge Menschen verschiedenen Geschlechts sich nicht allein treffen dürfen – Juliet und Jonathan verstoßen da eindeutig gegen die guten Sitten.
  • Die formale Überordnung von Männer gegenüber ihren Ehefrauen – und wie unterschiedlich das in den verschiedenen Ehen gehandhabt wird.

Und dann vor allem: Wie Claudia Gray die Figuren von Jane Austen weiter entwickelt.

Mode-Fihurine. gezeichnet. KLeid im Regency-Stil mit reich bordürtem Saum - bleaue Blumen. Das Kleid ist weiß, die Dame trägt Fächer und einen Turban wie Elizabeth im Buch von Claudia Gray
Beim Ball in Churchills Haaus trägt Elizabeth auch einen Turban – ist ja nun schon was älter 😉

Fanny Bertram gehört da zu den Überraschungen. Die Autorin legt Edmund dann auch eine Erinnerung bei, die zu Fanny in Mansfield Park passt und auch wieder nicht. Sehr faszinierend und durchaus überzeugend.

Jonathan ist ein junger Mann, der nicht allen gesellschaftlichen Regeln genügt – oder genügen kann, obwohl gerade sie sein Halt sind. Claudia Gray weist in ihrem Nachwort darauf hin (da versammelt sie Fragen rund ums Buch), dass er heute als „neurodivergent“ eingeschätzt würde, also evtl. im Spektrum des Autismus anzusiedeln ist. Mit ihm umzugehen, ist für die anderen nicht immer leicht – für ihn ist Gesellschaft, die sich nicht eins zu eins an die erlernten Regeln hält, eine große Anstrengung. Juliet hat da kein Problem – nachdem sie ihn anfangs für grob hielt, kommt sie im Laufe der Zeit mit ihm problemlos klar. Was alle anderen auch sehen und sich ihre Gedanken machen …

Natürlich ist das Buch trotzdem ein Krimi – mich hat aber beim Lesen dieser Bereich so sehr fasziniert, dass ich den Krimi-Aspekt zwischenzeitlich echt vergessen habe.

Wie schreibt Claudia Gray?

Ich bin des Englischen nun nicht in dem Maße mächtig, dass ich eine Stilkritik wagen würde – ich fands angenehm zu lesen.

Claudia Gray wechselt ständig die Perspektive – ich schaue also mit den Augen der einzelnen Leute aufs Geschehen, mal mit Elizabeths, mal mit Knightleys oder eben auch mit Fannys:

The ancients had been in the unfortunate habit of wearing very little clothing. Fanny hoped the shadowy nature oft he hall hid her blushs.

S. 58

Obwohl ich also ein bisschen in die Haut der Einzelnen schlüpfe, schafft die Autorin es, die Spannung hochzuhalten, denn sie erklärt erst seeeehr spät, was z. B. Fanny so umtreibt. (Auch wenn man es sich denken kann …) Cliffhanger at its best – und die immer wieder und bei allen Figuren.

Claudia Gray geht nicht hin und erläutert, warum Menschen denken, was sie denken, sondern zeigt nur, was sie denken. Dier Erklärungen, wie gesagt , kommen sehr viel später. Die Methode ist aber sehr „natürlich“, da wir ja auch nicht denken „Das und das ist blöd/beunruhigend/schön, weil vorher …“ das „weil vorher“ wissen wir ja …

Ich hatte sehr viel Freude an dem Buch. Claudia Gray kennt ihre Austen-Charaktere sehr gut, hat eine vielspurige und dabei stimmige Geschichte aufgebaut und sie angemessen präsentiert.

Claudia Gray: The Murder of Mr Wickham, Vintage Books, New York, 2022, E-Book-ISBN: 9780593313824

Ich habe das Buch über die Libby-App meiner Bibliothek gelesen.

Es gehört im Grunde in die Reihe #BelovedJane, die ich im Janar 2017 anlässlich von Jane Austens 200. Todestag begonnen habe. Das war übrigens auch ein Buch, in dem ganz viele Personen aus den verschiedenen Romanen Austens aufeinander trafen.

Es gibt dann noch eine Leseprobe für einen weiteren Band. Claudia Gray hat sonst Serien von Jugendlliteratur geschrieben – also nicht so ganz überraschend. Das neue Buch heißt „The Late Mr Willoughby“ – ob Claudia Gray allen Hallodris von Austen den Garaus machen? Es erscheint im Mai 2023. Die Hauptfiguren sind wieder Juliet und Jonathan – man könnte also wieder von Jugendbüchern sprechen. Und wie Claudia Gray den Cliffhanger produzuiert, dass Jonathan nun mit Willpoughby verbunden ist, das ist schon vielversprechend.

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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