Stefan Zweig in Ostende – das erste, was mir dazu einfiel, war der Sommer 1914. Damals war er auch dort, als der erste Weltkrieg ausbrach. Und konnte nicht glauben, dass seine europäische Welt in Trümmer fiel. Er blieb bis zum letzten Moment in Belgien. Ich kannte diese Szene aus seiner Autobiographie „Die Welt von gestern“ – Volker Weidermann schildert das alles noch mal am Anfang seines Buches über den Sommer 1936. So führt er uns an die Stimmung Stefan Zweigs heran, der sich 1936 – erneut – darüber klar werden, musste, dass seine Welt zerbrach. Er hatte sein Haus aufgegeben, seine Handschriftensammlung verkauft, seine Ehe mit Friederike war zerbrochen – er hatte keine Heimat mehr.
Der Untertitel „Sommer der Freundschaft“ macht schon klar – es bleibt nicht bei Stefan Zweig dort in Ostende. Letztlich treffen sich dort verschiedene Autoren, die wegen der Naziherrschaft ins Exil mussten, noch mehr werden erwähnt. Aber der, auf den es hier ankommt, ist Joseph Roth. Der stand 1913 als ganz junger Mann einmal vor Stefan Zweigs Tür, um dem verehrten Autor zu besuchen und – ging unverrichteter Dinge wieder weg, weil er sich nicht traute. Inzwischen waren die beiden befreundet. Stefan Zweig hatte den Kontakt hergestellt, weil ihn der Essay „Juden auf Wanderschaft“ beeindruckt hatte, der die Grundlage für den Roman „Hiob“ bildete, der 1930 erschien.
Die Freundschaft von Zweig und Roth war mehrschichtig. Die beiden Autoren bewunderten wechselseitig die Arbeit des anderen, sie kritisierten ihre Texte und arbeiteten zusammen. So hoffte Stefan Zweig von dem Treffen mit dem Freund, dass sich da ein Knoten lösen werde bei der Legende „Der begrabene Leuchter“, an dem er gerade nicht weiter kam. Andererseits ist es so, dass der finaziell erfolgreiche, bürgerlich etablierte Autor Zweig seinen jüngeren Kollegen oft finanziell unterstützt, denn Joseph Roth sind a) nach der Machtergreifung der Nazis viele seiner Einnahmequellen weggebrochen und b) lebt er eher exzessiv – er trinkt zu viel, er lebt auf zu großem Fuß in Relation zu seinen Einnahmen. Der Briefwechsel der beiden Freunde umfasst viele Bettelbriefe Roths und viele gute Ermahnungen Zweigs.
Zurück zum Buch: Volker Weidermann hat für die knappe Darstellung Briefe, Tagebücher und anderes Archivmaterial studiert. Außerdem kennt er sich mit dem Thema der Exilautorinnen und -autoren gut aus; man denke nur an sein „Buch der verbrannte Bücher“ von 2008. So ist bei aller Erzählhaltung dieses Buch keine Erzählung oder Novelle. Für mich ist es ein biographisches Werk, bei dem eine Episode genutzt wird, um das Leben verschiedener Menschen in sehr belastender Zeit zu zeigen. Neben Joseph Roth und Stefan Zweig kommen u. a. vor:
- Irmgard Keun, die vor den Nazis floh und in Ostende eine Beziehung mit Joseph Roth begann
- Hermann Kesten
- Egon Erwin Kisch
- Willi Münzenberg, der kommunistische Pressezar
- Christiane Toller, die junge Frau von Ernst Toller
Volker Weidermann erzählt auf knappen 155 Seiten mehrere Geschichten:
- von der Freundschaft zwischen Stefan Zweig und Joseph Roth und ihren Schwierigkeiten
- von der schnell aufgeflammten Beziehung zwischen Joseph Roth und Irmgard Keun
- von Stefan Zweigs Beziehung zu Lotte Altmann, seiner zweiten und zu Friderike Zweig, seiner ersten Frau
- von Leben und Sterben der beiden Hauptfiguren Zweig und Roth nach dem Sommer in Ostende
- von der Lösung, die Joseph Roth für „Der begrabene Leuchter“ findet
Nein, „Unterhaltung“ ist das nicht. Es ist ein Buch, das zum Nachblättern und Nachschlagen anregt: Wie war das Leben der Manns nach der Machtergreifung (sie treten zwar nicht auf, kommen aber in den Gesprächen der Gruppe in Ostende häufig vor), wer war in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg wo im Exil, wer hatte welche Publikationsmöglichkeiten, wer beteiligte sich wie und warum am spanischen Bürgerkrieg – eine anregende Lektüre. Volker Weidermann vermag es durchaus, Stimmungen wiederzugeben. Doch der Schwerpunkt des Buches liegt im Biographischen.
Ganz zum Schluss geht es noch um die Stadt Ostende, die heute, nach dem Bombenhagel des zweiten Weltkriegs so anders aussieht als 1914 oder 1936. Aber ein Haus hat Volker Weidermann entdecken können, das schon 1914 und 1936 dort stand.
Ich habe das Buch mit Gewinn gelesen und werde noch einiges zum Nachschlagen haben.
Volker Weidermann: Ostende 1936. Sommer der Freundschaft, Kiepenheuer und Witsch, Köln, 2014, ISBN: 9783462046007
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