Volker Weidermann holt einen Aspekt der Nachkriegszeit 1918 nah heran, den ich bisher nur als Nebensatz kannte. In den Biographien rund um die Familie Mann, die ich im Laufe der Zeit so gelesen habe, findet die Revolution in München tatsächlich nur am Rande statt. Was ich zu Thema 1914 las, endete in der Regel kurz davor – oder in Kiel und Berlin.
Was schildert Volker Weidermann?
Wer dachte was und handelte politisch wie in München von November 1918 bis April 1919? Da waren nicht mehr nur Politiker aktiv, sondern politsch denkende und aktive Dichter. Volker Weidermann geht mit ihnen, in wechselnder Perspektive, durch diese Monate, mit Ernst Toller, Oskar Maria Graf, Rainer Maria Rilke, sogar Thomas Mann hat seinen Auftritt auf Distanz und natürlich Kurt Eisner, erster Ministerpräsident des Freistaats Bayern (er gehört der USPD an – also ganz links!). Welche Gesetze wurden von wem weshalb erwogen? Wer lag in dieser ersten Räterepublik mit wem warum im Clinch? Denn einig war man sich nicht …
Anders bei Florian Illies ist Rilke hier durchaus aktiv – er geht in Versammlungen, redet mit Aktiven, nimmt Anteil, fast bis zum Schluss. Thomas Mann dagegen kommt bei Weidermann schlecht weg – er notiert den Ärger über die Tram, die nicht kommt, und die Leute, die nach Revolution schreien; ein Dichterfürst, entrückt von der Realität. Immer wieder geistert ein verwundeter Gefreiter durch die Seiten – Adolf Hitler; seine Gedankenwelt war 1918/19 noch nicht starr.
Erschüttert hat mich die Gewalt dieser Umbruchszeit, besonders an ihrem Ende. Volker Weidermann geht nah ran, mit Oskar Maria Graf z. B. in die Massenzelle am Ende des Traums. Bereits im Januar gab es Schüsse auf Demonstranten; Kurt Eisner selbst starb bei einem Attentat. Ernst Toller war im Gefängnis – sonst wäre er auch ermordet worden, da sind er und Volker Weidermann sich einig.
Was manchmal ein bisschen nervt, sind die Rücklblicke auf das bisherige Leben – besonders, wenn es eigentlich in der Szene weitergehen soll. So z. B. vor Eisners großer Rede:
Kurt Eisner blickt herab auf all die Menschen. Er streicht sich die langen Haare zurück. er ist aufgestanden, gleich wird er reden, wird sich zum provisorischen Ministerpräsidenten ausrufen und Bayern zum Freistaat erklären.
Aber einen Moment schaut er nur. Denkt er zurück? (S. 16)
Dann folgt bis Seite 19 der Rückblick. Dann erst geht es mit der Rede los.
Wie schreibt Volker Weidermann?
Für mich ist es ein Mittelding zwischen dichterisch und journalistisch. Die Perspektivwechsel – also Blickwinkel der beteiligten oder beobachtenden Personen – sind häufig assoziativ. Da gibt ein Ereignis den Anlass, zu schauen, wie andere als die direkt Betroffenen das erlebt haben. Volker Weidermann neigt dann dazu, die neuen, erstmals auftretenden Personen etwas umständlich und „geheimnisvoll“ einzuführen:
Nachdem Oskar Maria Graf am Ende eines revolutionären Tage betrunken seine Ehe und Liebschaft anschaut, beginnt der folgende Absatz:
Ein schmaler, zarter Mann mit großen Augen und großen Lippen hatte den Abend ganz anders verbracht. Mit einer jungen Frau, die sich Elya nannte, Elya wie die Königstochter aus dem alten Augsburger Georgsspiel, als die sie vor einigen Wochen auf der Bühne gestanden hatte. Er hat sie dort gesehen. „Rilke ist da“, hatte ihr Partner ihr noch auf der Bühne zugeflüstert. (S. 30)
Mit dieser Geschichte einer Dichterverehrung wird Rainer Maria Rilke ins Buch eingeführt – sein Verstummen während des Krieges, seine Anteilnahme – emotional – an der Revolution und den Träumen der Zeit und sein stiller Abschied von der Szene am Ende des Buches.
Nach einem Abschnitt über Ernst Toller ist Adolf Hitler an der Reihe:
In einem Lazarett in Vorpommern gewinnt der Gefreite und Meldegänger Adolf Hitler langsam sein Augenlicht zurück. (S. 60)
Der Abschnitt endet:
Hitler kommt an. Hitler ist Kurt Eisners Soldat. (S. 64)
Nach dem, was Volker Weidermann auf den Seiten dazwischen über Hitler schrieb, entwickelt sich das ganz logisch – ein Aperçu ist es allemal.
Vom Möchtergenmaler unmittelbar zum werdenden Schriftsteller – direkt anschließend an den Satz über Hitler lese ich:
Ein kleiner Dramatiker hat in diesem Tagen schon ein Schauspiel aus den aufwühlenden Ereignissen jener Wochen gemacht. Er ist soeben, am 18. November 1918, zwölf Jahre alt geworden, liest jeden Tag ein Buch, hat dichtes dunkles, leicht verstrubbeltes Haar (…) und macht fast alles zusammen mit seiner ein Jahr älteren Schwester Erika. (S. 64)
Klar, es geht um Klaus Mann, auch wenn der Name erst auf der nächsten Seite erscheint – so lange braucht Volker Weidermann, um den Jungen vorzustellen, sein Umfeld und sein Werk gleich mit, mit direkten Zitaten daraus.
„Träumer“ ist ein Buch zum Mehrfachlesen, zum Blättern, Suchen und Stöbern. Ähnlich wie in Ostende 1936 nutzt Volker Weidermann die Informationen über und von seinen – sehr vielen – Protagonisten, um ein Ereignis möglichst vielschichtig zu behandeln. Da hier deutlich mehr Menschen auftreten als bei dem anderen Buch, passt „Biographie“ als Kategorie nicht – deshalb firmiert es bei mir, allem erzählerischen Aplomb zum Trotz, als Sachbuch.
Volker Weidermann: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen, Kiepenheuer und Witsch, Köln, 2017, ISBN: 9783462047141
Die Stadtbibliothek Köln hat den Titel als Buch und als Hörbuch im Bestand.
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