Ein Kennzeichen mündlich überlieferter Literatur ist die Fülle an Varianten: In jeder Region, die ein Lied kennt, gibt es unterschiedliche Wortstellungen, manchmal andere Vokabeln, Strophen werden umgestellt, es findet sich ein überraschend anderer Schluss – es gibt halt keinen fixierten Text.
Am Beispiel des Liedes von „Graf und Nonne“ möchte ich Ihnen das einmal exemplarisch vorführen:
Hier handelt es sich um zwei lange Versionen eines der best belegten Erzähllieder im deutschsprachigen Raum. Es gibt auch niederländische Varianten und eine ungarische. Das Deutsche Volksliedarchiv hat einige Varianten online gestellt.
Niederländisch beginnt das Lied so:
Toen ik op Neerlands bergjes stond
Keek ik het zeegat in
Daar zag ik een scheepje zeilen
Daar zateen drie riutertjes in
Het allerliefster ruitertje
Dat in dem scheepje zat
Ze boten mij een te drinken
‘twas koele wijn uit her vat
Klingt ein bisschen ironisch, oder – „op Neerlands bergjes“?
Eine Variante beginnt auch mit „Wir Nonnen auf hohem Berge“ – der weitere Verlauf handelt dann aber von einer Person und endet mit dem Mord an der Nonne – der Schluss kommt gar nicht so selten vor. Wichtige Elemente der Geschichte sind die Strophen, in denen ein Geschehen einsetzt:
- die Bergstrophe leitet die Geschichte ein
- die Wein- oder Ringstrophe stellt die Beziehung zwischen ungleichen Partnern her
- die Traumstrophe initiiert die Sattelstrophe oder eine andere Art von Aufbruch
- die Sattelstrophe bringt heftige Bewegung ins Spiel
- die (zweite) Weinstrophe kann in unterschiedliche Richtungen führen, markiert aber auf jeden Fall den Anfang vom Ende
Nicht alle Strophen kommen in allen Varianten vor – diese formal festgelegten Strophen, die teilweise auch in anderen Liedern ähnlich gesungen werden, sind mnemotechnische Hilfsmittel; sie wirken wie Landmarken, von wo aus man weiß: Hier gehts jetzt weiter. Und sie sind auch die Punkte, an denen die Geschichte eine neue Wendung nehmen kann; somit mitverantwortlich für die Varinantenfülle.
Neben den Links zu Beiträgen zu „Graf und Nonne“ im Internet (Monika Schmid, Wikipedia, s. o. in den Links) habe ich meine Beispiele aus:
Holzapfel, Otto (Hrsg.): Deutsche Volkslieder und ihre Melodien/Balladen, Bd. 8, Graf und Nonne, Freiburg i. Br. 1988
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