Inhalt des Beitrags
Fanden Sie Gedichte-Auswendig-Lernen in der Schule anregend oder langweilig? Ich habe es ja geliebt – wenngleich ich es eher in Eigenregie veranstaltet habe; Gedichte auswendig zu lernen, war zu meiner Schulzeit nicht en vogue.
Im Studium habe ich dann verschiedene Epochen ein bisschen näher kennenlernen dürfen – und mir auch Gedanken zu „Oral Poetry“ gemacht. Hier werden Inhalte in schriftloser Tradition weitergegeben, eben mündlich. Diese Form der Kulturvermittlung ist sehr alt und vielleicht nicht immer „poetisch“ in unserem modernen Sinn. Sprache ist ja vielfältig zu nutzen – sie strukturiert Informationen und sie kann mit Rhythmus, Vers-Länge und – zumindest im europäischen Raum seit dem Mittelalter – Reim selbst strukturiert werden. Und wozu das Ganze?
Machen Sie doch mal den Test und vollenden Sie die folgenden Sätze – am besten noch mit der nächsten Zeile 😉 :
- Gefährlich ists, den Leu …
- Da werden Weiber …
- Wer reitet so spät …
- Der Mond ist ….
- Hinter eines Baumes …
Und – haben Sie’s gekonnt? Es ist doch erstaunlich, wie gut sich manche Zeilen im Gedächtnis halten, nicht wahr? Und das auch, wenn man das Gesamtwerk nie ganz auswendig lernen musste oder durfte. (Nein, nein, die Auflösung kommt später*.)
Warum können wir Gedichtzeilen auswendig?
Die rhythmische Struktur hilft dem Gedächtnis auf die Sprünge. Solcherart geprägte Sprache ist ein mnemotechnischer Trick, mit dem die Autoren und Autorinnen früher Zeiten, ihre Inhalte ungeschrieben mit sich herumtragen konnten. Und da ging es um mehr als um ein paar Verse – abendfüllende Programme kamen so zustande, die großen Epen des hohen Mittelalters wurden großenteils aus dem Gedächtnis vorgetragen und allgemeine Informationen über Heilkräuter, Hausmittel und Geschehnisse von allgemeinem Interesse konnten so übermittelt werden.
Vielleicht kennen Sie auch das Phänomen, dass Ihnen während des Singens die folgenden Worte einfallen, auch wenn Sie den Text sprechend nicht aufsagen könnten – versuchen Sie mal, „Geh aus mein Herz“ ohne Melodie aufzusagen; ganz schön schwer. Ebenso „Im wunderschönen Monat Mai“ … Musik ist quasi die Verstärkung der Rhythmisierung von Sprache. Volkslieder, Kinderlieder, Beatles-Songs – was immer Sie irgendwann mit Melodie gelernt haben, kommt mit Musik leichter wieder in ihr Gedächtnis. Auch manche „Sprachmelodie“ kann helfen. Ich kann z. B. noch Telefonnummern von vor über 20 Jahren auswendig, weil sie wie eine kleine Melodie bei mir abgespeichert sind. Und in meiner Prüfung zu Barock-Lyrik musste ich sehr aufpassen, nicht in Gesang auszubrechen, weil ich so viele vertonte Beispiele kannte.
Rhythmus wie verschiedene Versfüße, Sprachmelodie, in unseren Breiten auch der Endreim waren über Jahrhunderte die Merkmale für Lyrik. Natürlich gab es auch früher schon reimlose, frei rhythmisierte Lyrik – die Oden Klopstocks z. B. (die lassen sich aber auch schwerer auswendig lernen 😉 ) -, aber die reimlose Lyrik unserer Zeit ist ohne Schriftkultur im Grunde nicht denkbar. Der Rhythmus ist bei ihr schwerer zu entdecken. Aber es gibt ihn.
Oral Poetry – gedächtnisgestützt Literatur
Oral Poetry ist also eine frühe Form der Informations- und Literaturvermittlung. Rhythmus und Melodie von Sprache – teilweise verstärkt durch Musik – unterstützen das Memorieren und Wiederholen dieser Texte. Eine universale Technik, die überall auf der Welt angewendet wurde oder wird. Oral Poetry umfasst eben nicht nur geprägte Sprache in Form von Sprüchen, Versepik und im engeren Sinne Lyrik – auch Märchen wurden über Generationen mündlich überliefert. Kleine Reimeinheiten wie „Spieglein, Spieglein an der Wand“ oder „Buttje, Buttje timpete“, die im Laufe de Geschichte wiederholt wurden, dienen als Ankerplätze für die Erinnerung und der Strukturierung: Es ist doch klar, dass der Fischer nach jedem Wunsch seiner Frau ans Meer muss, um sein Sprüchlein aufzusagen. Wer die Märchensammlungen aus dem Diederichs-Verlag kennt, wo Märchen aus aller Welt veröffentlicht worden sind, weiß, dass gerade bei den exotischen Ländern oft sehr kurze Texte zu finden sind, die leicht im Gedächtnis bleiben. Auch wenn wir die Originalsprache nicht sprechen, geht aus Vorworten und Anmerklungen oft hervor, dass auch diese Texte mündlich überliefert wurden und einem gewissen Sprachrhythmus folgen, der das Erinnern erleichtert.
Die moderne Form von Oral Poetry? Werbesprüche …
- „Mein Bac, Dein Bac …“
- „Kraft in den Teller …“
- „Wer wird denn gleich …“
Sicher können Sie alle diese und noch viel mehr Sätze ergänzen. Manche davon haben ja eine kleine Melodie – Werbejingle heißt das dann. Aber viele funktionieren mit denselben Mitteln wie im Mittelalter – rein sprachlich:
- Aufzählung
- Alliteration
- Versfuß
- Reim
- Rhythmus
Oral Poetry ist also nix Verstaubtes, sondern Alltag, frisch und spritzig. Und letztlich merke ich beim Beschäftigen damit, wie viele unterschiedliche Texte oder Sprüche bei mir gepeichert sind, ohne dass ich mir dessen bewusst bin. Für mich verdeutlicht es noch mal, wie sehr Oral Poetry unserer Auffassung, unserem Gedächtnis angepasst ist. Ein wunderbares Medium, um Informationen auszutauschen, Texte zu verinnerlichen.
*Auflösung:
- Gefährlich ists, den Leu zu wecken,/ verderblich ist des Tigers Zahn / jedoch der schrecklichste der Schrecken, / das ist der Mensch in seinem Wahn.(Text)
- Da werden Weiber zu Hyänen / und treiben mit Entsetzen Scherz (Text)
- Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?/ Es ist der Vater mit seinem Kind. (Text)
- Der Mond ist aufgegangen, / die goldnen Sternlein prangen / am Himmel hell und klar (Text)
- Hinter eines Baumes Rinde / wohnt die Made mit dem Kinde (Text)
- Geh aus mein Herz und suche Freud/ in dieser lieben Sommerszeit (Text)
- Im wunderschönen Monat Mai,/ als alle Knospen sprangen (Text)
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