100. Geburtstag Selma Merbaum

100. Geburtstag Selma Merbaum

In meinen Augen des Erinnerns wert: Der 100. Geburtstag von Selma Merbaum. Ich erinnere mich noch genau an meinen ersten Kontakt mit den Gedichten von Selma Merbaum, die damals unter dem Namen Selma Meerbaum-Eisinger veröffentlicht wurden: Im Flur meiner Tante lag das Buch „Ich bin in Sehnsuch eingehüllt“ aufgeschlagen auf einer Kommode im Flur. Als Stefan-Zweig-Leserin und schon damals Lyrik-Liebhaberin hat mich das Gedicht auf Zweigs Schreibstil gepackt – ich kann davon noch einige Zeilen auswendig, auch heute noch, gut 40 Jahre später.

Stefan Zweig
Leuchtendes, glühendes, rauschendes Leben
springt an und reißt mit und läßt keinen mehr los,
rüttelt auf und macht wachter mit kraftvollen Stoß,
läßt die Fluten von Glanz nie und nimmer verebben —

packt dich und hält dich und sprudelt dich an.
Sturzflut erfaßt dich und rast mit dir fort —
was kein Wildbach, kein Wirbel, kein Hochwasser kann,
hat dies Atmen vieltausende Mal schon getan,
dieses heiße, verzerrende, glasklare Wort.

Kühl dann und still wie ein nordischer See,
glitzernd und weich wie frisch fallender Schnee,
sieht es uns an wie viel uraltes Gold,
das altrot und schwer durch die Finger rollt
und schön ist wie sonst nur unsagbarer Traum,
der dich ansieht, tiefleuchtend aus dunkelndem Raum —

und bäumt sich dann auf, als besinne es sich,
und packt wieder an und reißt wieder mit,
schreit dich an, lacht dich an, weint dich an: das bin ich!
Und es packt dich einen Sehnen, das süß ist und zieht,
ein Sehnen nach Menschen, ein heißes: “versprich!”
und dann klingt es aus wie ein Nachtigall-Lied.

Auch wenn ich es nicht mitgesungen habe – die Proben meines Chors zu Dietrich Lohffs „Requiem für einen polnischen Jungen“ haben mich sehr berührt. Er verwendet darin neben Texten anderer Autoren (tatsächlich sonst nur Männer) den Text „Poem“ von Selma Merbaum. „Poem“ ist ein Text, der vor Lebenslust und -sehnsucht fast birst – unter der Bedrohung des Judenhasses.

Schnappschuss eines lachenden Mädchens mit dunklen Haaren, lockig, mit Mittelscheitel, halblang und in weißer Bluse.
Offensichtlich das einzige verfügbare Bild von Selma Merbaum, denn es tauch bei allen Publikationen über sie auf.

Vor 10 Jahren habe ich auf der Frankfurter Buchmesse die Möglichkeit gehabt mit Marion Tauschwitz, ihrer Biographin zu sprechen und habe diese Biographie auch hier ausführlich besprochen. War es damals der 90. ist es nun der 100. Geburtstag von Selma Merbaum, der „gefeiert“ werden kann. Soweit ich weiß, gibt es von Marion Tauschwitz‘ Buch inzwischen eine veränderte Neuauflage …

Die Gedichte von Selma Merbaum haben mich seit meinem ersten Kontakt immer begleitet – mal mehr, mal weniger intensiv. In meinen Lyrik-Lesungen habe ich – außer bei Barock-Lyrik 😉 – in der Regel auch Texte von ihr dabei. Denn sie hat sich durchaus vielfältig geäußert.

1942, mit nur 18 Jahren starb die junge Lyrikerin im Konzentrationslager Michailowka an Flecktyphus.

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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