Die Blogparade „12 Bücher in 12 Monaten“ endet mit dem heutigen Beitrag – zumindest für das Jahr 2014 …
Ich hab zum Jahresende die Biographie einer Dichterin ausgewählt, die dieses Jahr 90 Jahre alt geworden wäre – hätte nicht im Dezember 1942 der Flecktyphus im Lager Michailowka ihr Leben beendet: Selma Merbaum, die ich Anfang der 80er Jahre als Selma Meerbaum-Eisinger kennen und schätzen lernte.
Marion Tauschwitz legt eine Biographie vor, für die sie Überlebende, Freunde und Verwandte Selmas, aufgesucht hat. In den Anmerkungen finden sich immer wieder Sätze wie: „XY im Austausch mit Marion Tauschwitz am …“ Sie hat die erhaltenen Unterlagen (Schulunterlagen vor allem, aber auch die Melderegister) in Czernowitz gesichtet und so die Sache mit dem Namen Selmas – Merbaum, nicht Meerbaum und schon gar nicht Meerbaum-Eisinger – geklärt. Und sie ordnet die Gedichte Selmas, die ja mit Daten versehen sind, Lebensereignissen zu. Das kann den Blick auf die Texte schon sehr verändern – ein Gedicht, das für mich immer ein klassisches Liebesgedicht „Junge – Mädchen“ war, interpretiert Marion Tauschwitz als Höhe- und Endpunkt von Mutter-Tochter-Querelen – nach dem zum Gedicht angegebenen Datum ist Selma zu ihrer Großmutter gezogen. Das ist ihr System: Zur Beschreibung des Lebens von Selma zitiert sie immer wieder Gedichtzeilen, um das Empfinden des Mädchens in einer Situation zu verdeutlichen.
Außerdem hat sie die handschriftliche Version der Blütenlese Selmas, des einzigen Zeugnisses
von eigener Hand, sorgfältig gesichtet und Übertragungsfehler ausgemerzt – denn, bitte schön: Am Ende der Biographie finden Sie alle Gedichte Selmas!
Und ich muss ein paar Texte neu auswendig lernen 😉 . Bei meinem ersten Selma-Gedicht „Stefan Zweig“ heißt es – und ich habe mir von Marion Tauschwitz das entsprechende Blatt der Blütenlese aus ihrem Faksimile zeigen lasssen – nicht das „verzehrende“, sondern das „verzerrende“ Wort. Ein anderes Beispiel ist im Buch abgedruckt: Das Gedicht „Rote Nelken“ wurde unter „Rote Wolken“ tradiert – in gewisser Hinsicht verständlich, denn Selma hatte eine ausgeprägt individuelle Handschrift.
Marion Tauschwitz spürt dem Leben des Mädchens und der jungen Frau nach, ihre Einstellung zur Schule, ihr politisches Engagement, ihr Aufbegehren gegen Konventionen in Sachen Kleidung. Auch die Geschichte der Familie findet ihren Platz – so auch der Umgang mit Selmas Cousin Paul Celan. Und dann die Verschlechterung der Situation jüdischer Menschen in Czernowitz, die faschistische Einstellung der rumänischen Regierung; der Einmarsch sowjetischer Truppen wurde von vielen, gerade auch zionistisch engagierten Menschen, darunter Selma und ihrer Gruppe Hashomer Hazair, enthusiastisch begrüßt – die Enttäuschung war riesig, als sich die Sowjets als Besatzer und nicht als Befreier erwiesen. Indem Marion Tauschwitz das politische Auf und Ab in der Bukowina schildert, unterlegt sie nicht nur das Leben von Selma, Paul Celan und Rose Ausländer mit historischen Fakten, sondern zeigt anhand eines kleinen Ortes das Auf und Ab der Hoffnung von Jüdinnen und Juden durch mehrere Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.
Ich habe im Oktober Marion Tauschwitz mit einer Lesung auf der Frankfurter Buchmesse erlebt und mich vorher lange mit ihr unterhalten können, denn da Selmas Gedichte mich lange begleitet hatten, hat mich diese Biographie einfach interessiert – meine Erwartungen an das Buch wurden dabei weit übertroffen: Marion Tauschwitz hat nicht nur eine Fülle an Material zusammengetragen und sorgfältig aufbereitet, sie schreibt auch lebendig und einfühlsam:
… oder (Selma) saß Renée zu Füßen, wenn die Freundin Klavier spielte. Nachmittage lang. Vertraut ohne Worte. Selma und Renée wussten auch im Schweigen, wie es jeder von ihnen zumute war. (S. 72)
Marion Tauschwitz: Selma Merbaum: Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben. Biografie und Gedichte. Mit einem Vorwort von Iris Berben, zu Klampen Verlag, Springe, 2014, ISBN: 9783866744042
[BLOCKED BY STBV] 12 Bücher in 12 Monaten - mein Fazit
15. Dezember 2014 at 8:13[…] Die Biographie zu Selma Merbaum […]