Doch, sie hat ihn geschrieben, den dritten Band rund um Thomas Cromwell. Ich hab schon nicht mehr dran geglaubt. Da ich erst einmal Probleme damit hatte, mich bei den ganzen Personen wieder zurechtzufinden, habe ich dann noch mal die beiden vorherigen Bände – „Wölfe“ und „Falken“ – von Hilary Mantel gelesen.
Aber nun zum Buch selbst.
Was erzählt Hilary Mantel über Thomas Cromwell?
Es geht um seine letzten Jahre – vom Tod Anne Boleyns bis zu seinem eigenen. Es waren sehr bewegte Jahre:
- Nach dem Tod Annes heiratete Henry VIII Jane Seymour – seine dritte Frau.
- Im Norden rebellierten die Katholiken gegen die Abspaltung der englischen Kirche von Rom in der „Pilgrimage of Grace„
- Cromwell hatte die Auflösung von Klöstern zu verantworten – und die Umleitung ihrer Vermögen in die Schatulle des Königs.
- Aus der Familie Pole gab es noch stärkeren Widerstand gegenüber Henry als schon zu vor – Reginald Pole soll England rekatholisieren.
- Jane Seymour stirbt kurz nach der Geburt ihres Sohnes. Henry soll/will/muss erneut heiraten. Cromwells Vorschlag: Anna von Kleve, seine vierte Frau. Doch Henry ist mit dieser Ehe nicht zufrieden.
Das sind nur die bedeutenden politischen Ereignisse der Zeit. Thomas Cromwell selbst erlebt laut Hilary Mantel daneben noch jede Menge Flashbacks in seine Vergangenheit. Und die war in manchen Teilen ziemlich düster. Noch düsterer als man nach der Kenntnis von Walter Cromwell, seinem Vater, im ersten Band erwartet hätte.
Seine Vergangenheit ist sein Thema. Vor allem der Fall Wolseys, seines ersten Gönners und „Masters“, wie es im Text immer heißt (alle sind „Master: Henry VII genauso wie der französische König und der Kaiser, wenn die Gesandten sich austauschen – dieses Vokabular hat mich ein bisschen irritiert).
Beim erneuten Lesen von „Wölfe“ und „Falken“ ist mir dieser Strang noch einmal so richtig bewusst geworden: Thomas Cromwell ist bei Hilary Mantel treu bis weit über den Tod hinaus. Und nachtragend.
Besonders deutlich wird in diesem Band, in dem Thomas Cromwell den Zenit seiner Macht erreicht, wie sehr alle anderen ihn weghaben wollen. Er ist ständig dabei, seine Position zu sichern, zu verhandeln, zu schmeicheln und zu drohen, um in einem fragilen Gleichgewicht zu bleiben. Doch wenn die Stimmen seiner Gegner:innen das Ohr des Königs erreichen …
Wie erzählt Hilary Mantel?
Bildkräftig, suggestiv und detailreich.
Und Jane verzichtet auf ihr Korsett und kommt ungeschnürt. Sie lechzt nach Kirschen und Erbsen, doch beides gibt es noch nicht. Sie fragt nach Wachteln, und die Lisles schicken gleich kistenweise welche aus Calais. Sie werden an Bord noch gefüttert und in Dover erst geschlachtet, um sie so fettt wie möglich zu halten (…) Sie isst sie mit Gewürzen eingerieben und mit Honig begossen, zerbeißt die winzigen Knochen und saugt daran
S. 581
Da Thomas Cromwell eine Zeitlang sein Geld mit Tuchhandel erworben hat, ist sein Blick auf Tuche, ihre Preise und alles, was dazu gehört, legendär. Hinzu kommt sein phänomenales Gedächthnis. Hier geht es um Mary Tudors Ausstattung beim Tod ihrer Mutter – mit dem Zusatz zur aktuellen Lage, als ihr Vater sie wieder als Tochter aufnehmen will:
Zweiunddreißig Yards schwarzer Samt für dreißig Pfund und acht Shilling. Zweiundvierzig Shilling und acht Pence für den neuen Master der Merchant Tailors für Schneiderarbeiten. Vierzhen Yards schwarzer Satin für sechs Pfund und sechs Shilling. Dreizehn Yards scharzer Samt für ein Nachthemd und Taftfutter. Neunzig schwarze Eichhörnchenfelle. Dazu Unterkleider, Goller, Schnürleibchen, Ärmel und anderes: einhundertzweiundsiebzig Pfund, sechzehn Shilling und Sixpence alles zusammen aus dem Säckel des Königs. Jetzt wird sie hellere Töne tragen.
S. 196
Ein Beispiel, wie Hilary Mantel Stimmungen darstellt:
Die Kälte seiner Stimme wäre das Ende jedes Weinbergs.
S. 584
Die Innensicht Thomas Cromwells, in Er-Perspektive ausgedrückt, ist mir inzwischen vertraut. Manche Szenen wirken wie Schauspiel – denn die Innensicht der anderen fehlt. Thomas Cromwell schaut darauf und denkt sich sein Teil. Leider leiegt er in manchen Fällen daneben.
Sie schildert nicht, wie Thomas Cromwell aussieht, wenn er weint – sie lässt ihn sprechen und seine Leute auf die Szene reagieren. Auch hier: eine dichte Szene mit unglaublich viel Emotion, ohne, dass die benannt werden muss.
Hilary Mantel vermag einen Sog zu erzeugen – sie holt mich in die Geschichte hinein. Sie macht eine Figur lebendig, über die es im Allgemeinen vorher quasi nur Negatives zu wissen gab.
Was Hilary Mantel auch macht: Rückbezüge zwischen den Bänden. Das italienische Lied, das Thomas Cromwell am Ende in den Sinn kommt, kenne ich aus dem ersten Band … Und das ist nur eins der plakativen Beispiel. Alle drei Bände sind so eng miteinander verwoben.
Eine kleine Nachbemerkung: Die drei Bände im Kontext zu lesen macht noch mehr Freude, als nach acht Jahren mit dem dritten wieder loszulegen 😉
Hilary Mantel: Spiegel und Licht, übersetzt von Werner Löcher-Lawrence, DuMont Buchverlag, Köln, 2020, ISBN: 9783832197247
Die Stadtbibliothek Köln hält den Titel als Hardcover, E-Book und Hörbuch vor.
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