Das Buch von Thomas Hettche aus dem Umschlag zu nehmen, in dem es mich vor einiger Zeit erreichte, war ein haptisches Erlebnis: Der Einband fühlt sich seidig und glatt an, dann diese stilisierte Pfauenfeder, der ich mit den Fingern nachspüten kann – hach, wie schön!
Und ja, ich weiß, dass ist kein Kriterium für die Qualiltät von Literatur – aber dieses Erlebnis des Auspackens hat mir durchaus Vorfreude auf das Buch vermittelt.

Es folgt die spannende Frage: Hat das Buch das Versprechen seines Einbands gehalten?
Ja, schon …
Um gleich noch ein Geständnis loszuwerden: Am Ende habe ich sehr geweint … („Rotz und Wasser geheult“, trifft es besser).
Aber der Reihe nach: Thomas Hettche hat sich die Geschichte der Pfaueninsel vorgenommen – und streckenweise hat sein Roman einen dokumentarischen Charakter. So schildert er die Nutzung dieser Insel nahe Potsdam über einen Zeitraum, der die Lebenszeit seiner Protagonistin noch übersteigt. Vom Liebesschlösschen Mitte des 18 Jahrhunderts bis zur Touristenattraktion Mitte des 19. reicht die Bandbreite. Vor- und Nachsatzseiten des Buches ziert eine Karte der Insel mit ihrer Umgebung.
Fast 80 Jahre ist Marie Strakon alt, als sie stirbt – so alt wie das Jahrhundert. Ihre Bekanntschaft mache ich als Leserin, als sie sechs Jahre zählt – da kommt sie auf die Insel, zusammen mit ihrem Bruder Christian. Und die beiden erleben gleich zu Beginn eine große Verletzung: Königin Luise von Preußen steht überraschend Christian gegenüber, der sich im Unterholz versteckt hielt, um einen Blick auf sie werfen zu können, und ihr entfährt das Wort, das die Selbstwahrnehmung der beiden Geschwister prägen wird: Monster.
Marie und Christian sind kleinwüchsig – damals hießen sie Zwerge. Ihre Großmutter hat sie dem König als Kriegswaisen vorgestellt und er hat entschieden, dass sie auf der Pfaueninsel leben sollen. Marie ist das „Schlossfräulein“.
Beim königlichen Hofgärtner Ferdinand Finterlmann und seiner Familie leben die beiden Geschwister, sie wachsen mit den Neffen Fintelmanns auf. Maries Zuneigung gehört vor allem Gustav Fintelmann, dem ältesten der Neffen, der ihr gleich bei der ersten Begegnung freundlich entgegenkam. Thomas Hettche schildert einerseits – eher dokumentarsich – die Anlagen der Insel und die damit verbundnen Menschen und Arbeiten. Andererseits lässt er uns am Innenleben Maries teilhaben, vom kleinen Mädchen bis zur alten Frau. Wie sie wahrgenommen wird, als „Zwergin“, was sie dabei empfindet, wird sehr schön dem Schönheitsideal der Zeit gegenüber gestellt. Sie und Christian sind für das Schönheitsempfinden der anderen ein Affront – und damit quasi vogelfrei. Sie haben zur Verfügung zu stehen – in vielerlei Hinsicht. Christian lehnt sich sichtbar dagegen auf, Marie dagegen eher versteckt.
Thomas Hettche: Pfaueninsel, Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln, 2014, ISBN: 9783462048994
Kerstin Scheuer
8. September 2014 at 11:35Vielen Dank für diese tolle Rezension.
Das Buch steht auch auf meiner persönlichen Shortlist. Eigentlich wollte ich es als E-Book lesen, weil ich das für unterwegs einfach praktischer finde.
Nachdem Du aber den Einband so schön beschrieben hast, wird es vielleicht doch das Hardcoverbuch.
Liebe Grüße,
Kerstin
Heike Baller
8. September 2014 at 13:43Ach was für ein schönes Ergebnis einer Rezension
Heike Baller
8. September 2014 at 13:43Ach was für ein schönes Ergebnis einer Rezension