Es wird dem Dichter Hans Magnus Enezensberger sicher nicht gerecht, wenn ich sage, dass ich in diesem Band zuerst die Bilder geguckt hab … Es war aber ssu ssu verführerisch. Vor allem, wenn beim Blättern als erstes das Bild einer Eule auf schwarzem Hintergrund auftaucht, die mich kritisch mustert.
Aber nun zur Lyrik.
Was dichtet Hans Magnus Enzensberger im 21. Jahrhundert?
Die erste Antwort wäre die auf die Frage „Wie?“: schnörkellos. Und gern widerspricht sich der Autor selber:
Gewürz
Scharf, plötzlich, durchdringend
wie ein Kümmelsamen,
wenn ich mir widerspreche
Zwischen Satz und Gegensatz
habe ich auf die Wahrheit
gebissen
Der Geschmack des Kümmels,
deutlicher als die Wörter,
läßt sich nicht wiedergeben.
S. 89
Die Texte atmen Altersweisheit und Ironie, Sentimentalität und Sarkasmus – alles wohl dosiert, so aufs Ganze gesehen. Insgesamt eine bunte bis gute Mischung.
Wie bei Lyrik üblich – zumindest bei mir – sagt mir nun nicht jeder Text was. Einige als „Gedicht“ zu bezeichnen, fällt mir trotz des Layouts schwer; auch wenn gebundene Sprache im Form von Reim oder Rhythmus in der modernen Lyrik nun wirklich nicht zwingend erforderlich sind, kommen ein paar Texte eher banal daher.
Doch weiß ich aus Erfahrung, dass diese Wahrnehmung je nach Lebenssituation und Alter (!) variieren kann. Mal sehen, wie ich in ein par Jahren über Texte wie „Die Dreiundreißigjährige“ denke.
Die Bilder von Jan Peter Tripp
Das Titelbild – und das war mir beim Kauf tatsächlich nicht klar – ist bereits ein Bild des Künstler, ein Porträt von Hans Magnus Enzensberger. Es zeigt den Autor vor 18 Jahren, also im Jahr 2002.
Eine Falle der Bilder ist damit offensichtlich: der fotorealistische Ansatz. So präzise Abbilder! In Kombination mit den Titel ergeben sich dann aber mehrere Ebenen. Unter dem Titel „Narziss allein zu Haus“ fielen mir als erstes die plastisch gemalten Bücher auf – ein Regal voll mit Heine, Nabokov, Kafka, Proust, Leonardo da Vinci, der Bibel und Montaigne. Mittendrin eine Figur, die ihr Herz öffnet, in dem sie selber sitzt und wieder ihr Herz öffnet …
Die Eule, die meinen Blick als erstes fesselte, trägt den Titel „Après le deluge“ – „Nach der Sintflut“.
Auch surrealistische Figuren sind darunter. Und Blumenbilder – „Le Sacre du printemps“ und „Explosion“ übertönen als Titel die filigran gezeichneten Stengel, Blüten und den Widerschein des Wassers in der Vase.
Die Präzision alltäglicher Gegenstände und Figuren in den Bildern von Jan Peter Tripp korrespondiert durchaus mit der Sprache von Hans Magnus Enzensberger. Es gibt ein Dahinter, ein Darüber – zumindest manchmal. Nicht immer dasselbe und auch für alle. Trifft im passenden Moment das richtige Bild oder Sprachbild auf einen Kopf oder in ein Herz, kann was passieren.
Lyrik halt.
Hans Magnus Enzensberger und Jan Peter Tripp: Wirrwarr, Gedichte, Suhrkamp Verlag, Berln, 2020, ISBN: 9783518429167
Sandy
26. Juli 2020 at 12:51Vielen Dank für Ihren Beitrag. Ich wusste vorher nichts von diesen Dichtern. Ich werde auf jeden Fall mehr von ihren Werken lesen.
Winfried
29. März 2021 at 15:19Guten Tag,
vielen Dank für diesen ausführlichen Beitrag.
Ich habe ihn mit Freude gelesen.
LG aus Hannover,
Winfried