Inhalt des Beitrags
Hier habe ich von jemand anderes Geburtstag profitiert, denn da bekam dieser jemand diesen zweiten Roman von Benjamin Myers geschenkt – und hat ihn mir regelrecht aufgedrängt mit „Das musst du lesen!“
Stimmt – das sei als Fazit gleich vorweggenommen 😊
Was erzählt Benjamin Myers?
Die eine Seite ist eine Art Coming-of-age-Geschichte: Ein alter Mann erzählt, von einem Sechzehnjährigen, von sich selbst als Sechzehnjährigen. Der macht sich nach Ende des zweiten Weltkrieges und Abschluss der Schule auf den Weg – mal was anderes sehen als das Bergarbeiterdorf daheim, die Nase in den Wind halten, bevor ihn das Schicksal von Vater, Großvater undsoweiter ereilt. Heute hieße das „Work and travel“ und viele junge Menschen wären damit in anderen Ländern unterwegs – für Robert ist das Meer so ein Ort, den er mal sehen will, fern dessen, was als Meer in seiner Heimat als Transportweg ans Ufer klatscht, schwer und schwarz.
Es kommt, wie es in einem Roman kommen muss – er kommt zu einer abgelegenen Hütte. Dort wohnt eine großgewachsene ziemlich alte Frau, die ihm erlaubt, im Garten zu zelten und die mit großartigen Zutaten kocht. Es ist bei uns ja fast vergessen, dass in England noch Jahre nach dem gewonnenen Krieg Mangelwirtschaft herrschte – doch Dulcie hat so ihre Quellen und ihre Vorräte. Der Junge bleibt, hilft auf dem Grundstück, lebt sich ein und die beiden ungleichen Wohngenoss*innen reden über vieles. Dulcie hat einen völlig anderen Hintergrund als Robert – Literatur! Sie gibt ihm Bücher zu lesen, vor allem Lyrik. Sie erzählt von Begegnungen mit Autor*nnen – auf einmal erscheint Lyrik dem heranwachsenden jungen Mann (auch ein Thema!) nicht mehr als Kinderschreck.
Peu à peu kommt er Dulcie näher und entdeckt am Ende ihre Geschichte. Dabei entdecken beide noch was anderes und Dulcie kann ihren Frieden mit der Vergangenheit machen.
Die Konstellation ist ein bisschen wie in „Alte Sorten“ von Ewald Arenz, doch Benjamin Myers belässt es nicht bei einem offenen Ende. Zum Schluss erfahre ich, was aus beiden geworden ist.
Und was das mit der Lyrik und Literatur auf sich hat.
Dulcie führt ihn, wie schon angedeutet, an Literatur heran, vor allem an Lyrik. Das hat mit ihrer Geschichte zu tun. Aber eben auch mit Roberts Entwicklung. Der Umgang mit Gedichten, mit Büchern überhaupt prägt ihn.
Dabei schaue ich ihm über die Schulter – wie ihn Texte erst verwirren und gleichzeitig bannen, das erzählt er mir; Benjamin Myers ist da vergessen 😉.
… und es gab Wörter und Bilder darin, die ich nicht verstand – zumal mir auch die genaue Bedeutung oder der Sinn, falls es überhaupt so etwas Greifbares besaß, nicht klar war -, dennoch löste das Gedicht unbekannte Empfindungen aus.
S. 148
Schon klar, dass solche Erfahrungen ihn für die Erwartung an ihn, Vater und Großvater in die Mine zu folgen, untauglich macht, oder? Dieser andere Hauptaspekt des Buches ist nicht nur erzählte Erfahrung von Robert, sondern drückt sich von Anfang an in der Sprache aus – Benjamin Myers nutzt eine lyrische Sprache. Da es eine Ich-Erzählung ist, ist es Roberts Sprache …
Beispiel? – Gern.
Gleich im Prolog gibt es so was hier:
Während ich jetzt hier am offenen Fenster sitze, ein Glissando von Vogelstimmen auf einer hauchzarten Brise, die den Duft des letzten nahenden Sommers in sich trägt, klammere ich mich an die Dichtung, wie ich mich ans Leben klammere.
S. 11
Plötzlich war weiter vor uns eine explosionsartige Bewegung, als etwas Rotbraunes durch eine schmale Lücke in der Hecke brach und quer über den Weg preschte. Für einen sekundenschnellen Moment sah ich ein Reh die fast senkrechte Lehmböschung hochspringen, wie ein Häftling eine Fluchtleiter, und in das Wäldchen oberhalb davon eintauchen.
S. 93
Diese Passage ist unter anderem deshalb so bemerkenswert, weil die Schilderung vorher und nachher sehr viel Ruhe ausstrahlen – diese Szene schildet nicht nur, sie vollzieht das Geschehene nach.
Die Sprache von Benjamin Myers hat mich völlig in den Bann gezogen.
Mein Fazit
Ein Buch über eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen zwei Generationen, über Lyrik, sehr viel Lyrik und Literatur. Eine alte trinkfeste Frau mit Wörtern, die dem Sechzehnjährigen zu Beginn die Röte ins Gesicht treiben. Ein Junge, der sich zum Mann entwickelt und neben Toleranz und der Begeisterung für gutes Essen sein ästhetisches Empfinden ausbildet.
Benjamin Myers: Offene See, übersetzt von Ulrike Wesel und Klaus Timmermann, DuMont Buchverlag, Köln, 2020, ISBN: 9783832165987
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