Den ersten Hercule-Poirot-Krimi von Sophie Hannah habe ich ja bereits rezensiert und war sehr gespannt auf den zweiten. Gleich vorweg: Er hat mich nicht enttäuscht 😉
Der Ort der Handlung könnte nicht typischer sein: Ein Landsitz (in Irland), eine etwas bejahrte Hausherrin mit erwachsenen Kindern und Schwiegerkindern, einem Sekretär und zwei Anwälten. Zusammen mit diesen Personen befinden sich an der entscheidenden Dinnertafel noch die Pflegerin des Sekretärs – bekanntermaßen ist er schwer krank – sowie Poirot und sein neuer Freund Catchpool von Scotland Yard. Im Gegensatz zu den meisten am Tisch weiß ich als Leserin schon, welche Bombe Lady Athelinda Playford gleich hochgehen lässt, denn im ersten Kapitel erzählt Catchpool (aus dessen Perspektive ich alles miterlebe) die Vorgeschichte: Die erfolgreiche Schriftstellerin hat ihr Testament zugunsten ihres Sekretärs geändert – er soll alles erhalten, die Kinder Athelindas sollen leer ausgehen.
Aufschrei, Tumult. Besonders die Schwiegertochter stellt die zwei Absurditäten heraus: Die eigenen Kinder für einen Sekretär zu enterben, das könne nur als Antipathie besonders ihr gegenüber verstanden werden. Und jemand Todkrankem etwas zuzusprechen, was er nicht erleben wird, sei geschmacklos.
Die Tischgesellschaft löst sich in dem Moment auf, in dem der Sekretär seiner Pflegerin einen Heiratsantrag macht und Poirot beginnt sofort zu arbeiten: Er und Catchpool müssen herausfinden, wer sich wo aufhält, ob die Hausherrin in Gefahr ist und ob der Kranke gut versorgt ist. Einige Personen haben das Bedürfnis nach frischer Luft, darunter auch die „glückliche Braut“. Währenddessen leidet der dicke Anwalt sehr und geht davon aus, er sei vergiftet worden – er hatte einen Mann und eine Frau im Laufe des Tages Geheimnisvolles reden gehört. Wie der Arzt im Hause – der Verlobte der Tochter – feststellt, hat sich der Gourmand einfach nur, pardon, überfressen und schnarcht nach der drastischen Behandlung durch den arroganten jungen Mann lautstark. Mitten in das Schnarchen hinein tönen entsetzte Schreie: Die Pflegerin ist von ihrem Spaziergang zurück und steht vor dem Wohnzimmer – dort liegt der Sekretär, tot, mit zerschlagenem Gesicht. Die Pflegerin behauptet hartnäckig, sie habe die Tochter des Hauses beim Zuschlagen beobachtet.
So weit die Krimisituation. Natürlich ist der mit der Aufklärung beauftragte Beamte nicht nur unfähig, sondern auch unfreundlich. Poirot und Catchpool versuchen nun, alles herauszufinden, was relevant ist. Letztlich führen die Lektüre eines der weniger bekannten Dramen von Shakespeare, die nicht zerschmetterte Kinnpartie des Opfers und ein Besuch Poirots in Oxford zur Auflösung. Sophie Hannah lässt Inspektor Catchpool dabei durchaus einige Meriten selber verdienen – er wird nicht als ein Poirot intellektuell so unterlegener Freund geschildert, wie es Hastings war. Die Charakterisierung der mehr oder weniger adligen Gesellschaft neigt in manchen Fällen ein wenig zur Übertreibung, passt aber trotzdem zu Poirots Umfeld, auch wenn ich nicht vergessen kann, dass es eine Autorin des 21. Jahrhunderts ist, die den Roman schrieb.
Ein bisschen schade finde ich, dass die Charakterisierung Catchpools, dem im ersten Roman ein traumatisches Erlebnis in seiner Kindheit Probleme bereitete, hier etwas „glatter“ daherkommt. Insgesamt ist es wieder ein gelungener Genre-Krimi a la Agatha Christie mit einem glaubwürdigen Hercule Poirot.
Sophie Hannah: Der offene Sarg. Ein neuer Fall für Hercule Poirot, übersetzt von Giovanni und Ditte Bandini, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, , ISBN: 783455600537
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