Lügnerin – das Buch für die Stadt 2019 von Ayelet Gundar-Goshen

Lügnerin – das Buch für die Stadt 2019 von Ayelet Gundar-Goshen

Lügnerin von Ayelet Gundar-Goshen ist ein schon beim Erscheinen in Deutschland hoch gelobtes Buch – eine gute Entscheidung für das „Buch für die Stadt“ in Köln für dieses Jahr.

Was erzählt Ayelet Gundar-Goshen?

Nuphar hat nur geschluchzt – das wurde als Nicken interpretiert. Sie hat vor lauter lautem Weinen so gebebt, dass diese Interpretation nahe lag. Doch die Konsequenzen …

Nuphar fühlt sich unansehnlich. Sie jobbt in einer Eisdiele in Tel Aviv und wünscht sich Veränderung. Da kommt ein Kunde, der sie mit genau den Worten beleidigt, die sie sich selbst immer vorhält – hässlich und dick und überhaupt … Weinend läuft sie in den Hinterhof. Als der Mann ihr folgt und sie am Arm festhält, schreit sie so laut, dass viele Leute zusammenströmen. Eine junge Soldatin erfasst die Situation mit einem Blick: Da hat einer einem Mädchen sexuelle Gewalt angetan. Sie fragt Nuphar. Die bebt. Das gilt als „Ja“. Und die Geschichte nimmt ihren Lauf.

Eissorten, wie Nuphar sie im Buch von Ayelet Gundar-Goshen verkauft
So mag auch die Auslage in der Eisdiele ausgesehen haben, in der Nuphar jobbt. Von David Adam Kess CCbySA4.0

Alles ändert sich für Nuphar – auf einmal wird sie gesehen, freundlich behandelt. Der Mann, der den Übergriff bestreitet, ist ein alternder TV-Start, der selber Aufmerksamkeit will – doch nicht so!

Über der Eisdiele lebt Lavie – ein Junge, der an seinem Leben verzweifelt. Die beiden Jugendlichen kommen sich näher – mit der Zeit.

Ayelet Gundar-Goshen entblättert die Seelen aller, die in ihrem Roman auftreten, schaut auf den Grund ihrer Handlungen und Gedanken, lässt mich an ihren Verletzungen und Sehnsüchten teilhaben. Warum klärt Nuphar das Missverständnis nicht sofort auf? Was passiert mit ihr, als alle meinen, ihr sei etwas passiert? Pointiert schildert Ayelet Gundar-Goshen das innere Erleben. Ich kann gut verstehen, warum die Siebzehnjährige sich der Situation erst mal hingibt. Ich kann aber auch die verletze Eitelkeit von Avischai Milner, dem beschuldigten Mann, zumindest nachvollziehen – Ayelet Gundar-Goshen lässt mich sehen, wie Bedürftigkeit und Anspruch zusammenspielen, um die Kaskade von Beschimpfungen vor ihm selbst zu rechtfertigen, mit der er Nuphar überschüttet.

Die Autorin ist übrigens Psychologin. Ihre Kenntnis dessen, was Menschen im Tiefsten beeinflusst, lässt ihre Figuren lebendig werden.

Ach übrigens: Auch wenn der Titel „Lügnerin“ heißt, also den Singular nutzt, – Nuphar ist nicht die einzige, die nicht die Wahrheit sagt … Es sei nur „Rivka“ erwähnt, die eigentlich Raymonde heißt. „Schoa-Nutznießerin“ ist nicht gerade ein Kompliment, oder? Doch auch Raymonde hat ihre Geschichte, die zu lesen lohnt.

Wie erzählt Ayelet Gundar-Goshen?

Das Wort „pointiert“ hatte ich ja schon – sie kommt wirklich auf den Punkt:

Ein taubstummer Bettler streckte den Leuten die Hand entgegen, doch sie stellten sich blind.

(S. 9)

 Sie sah ein, dass sie im Lügen besser war als im Bekennen der Wahrheit.

(S. 111)

Die Erzählstimme ist immer präsent, kommentiert – und trotzdem komme ich in die Tiefe der Personen, eben weil die Erzählerin so viel über Gefühle und ihr Zustandekommen weiß.

Manche Kommentare sind lang und, ja, poetisch:

Auch das Gehör von Stadtmenschen ist geübt: Mit geschlossenen Augen können sie die einzelnen Geräusche im Stadtlärm unterscheiden: das Rumpeln der Müllabfuhr, die Musik aus dem Kiosk (…), das „Kchechz“ angesammelten Herbstlaubs und das „Plpp“ beim Öffnen von Bierflaschen. Doch das „Trrakk“ eines zerbrechenden jungen Herzens ist aus dem unendlichen Lärm nur schwerlich herauszufiltern

(S. 276 f)

Ein lesenswertes Buch.. Keine reine „Coming-of-Age-Geschichte“ zum Glück, auch wenn die Protagonistin 17 Jahre zählt. Eine gute Entscheidung.

Das Aber zur Entscheidung für das Buch von Ayelet Gundar-Goshen

Die Entscheidung für das Buch für die Stadt fiel in diesem Jahr spät. Und die Woche rund um das Buch findet spät statt – erst ab 1.12.

Im Juni stehen einige Veranstaltungsprogramme von Buchhandlungen oder anderen Anbietern literarischer Veranstaltungen bereits fest. Die Adventszeit ist bei vielen Leuten – auch bei mir – bereits so dicht, dass weitere Termine zur Belastung werden können.

Von mir wird es deshalb dieses Jahr neben diesem Blogbeitrag wohl nichts zum Buch für die Stadt geben, .

Ich fände es schön, wenn die Jury wieder den Welttag des Buches, den 23.4., zur Verkündung ihrer Entscheidung nutzen könnte. Und die Veranstaltungswoche im November liegt. Einfach wegen des Timings.

Ayelet Gundar-Goshen: Lügnerin, übersetzt von Helene Seidler, kein & aber Verlag, Zürich Berlin, 2017/2018, ISBN des Taschenbuchs: 9783036959801

Es gibt eine günstige Sonderausgabe des Verlags. Die Stadtbibliothek Köln hält davon mehrere Exemplare vor.

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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