Als Dorothee Sölle, Fulbert Steffensky , Marie Veit und andere das politische Nachtgebet initiierten und durchführten, betete ich noch „Ich bin klein, mein Herz ist rein (meine Füße sind schmutzig, ist das nicht putzig?)“. An Anselm Weyer, den Autor des neu herausgekommenen Bändchens mit dem Untertitel „Dorothee Sölle und das Politische Nachtgebet in der Antoniterkirche“ war noch gar nicht zu denken. Irgendwie war das immer „Geschichte“ für mich. Doch in dem schmalen Buch wird diese Geschichte lebendig. Anselm Weyer schafft es, gerade auch den Weg hin zum politischen Nachtgebet lebendig nachzuzeichnen. Und bei vielen Sachen habe ich gedacht: Da hat sich in den 45 Jahren nicht viel verändert. Aber eben erst danach! Das politische Nachtgebet und die vielen Diskussionen und Auseinandersetzungen darum, was Kirche darf und soll und was in ihren Räumen geschieht, das hat damals viel in Bewegung versetzt, was unser Gottesdienstverständnis und unseren Umgang mit Zeit- und Streitfragen in der Kirche bis heute beeinflusst.
Auch und gerade durch diese Aktion. Dorothee Sölle und die anderen haben mit großem Engagement rund vier Jahre lang jeden Monat ein aktuelles Thema beackert – der Vietnamkrieg war dabei sicher das „populärste“ und brennendste, aber auch die Situation von Strafgefangenen oder die Entwicklung des Städtebaus haben sie unter dem Aspekt linker Einstellungen und der Anforderungen des Evangeliums durchleuchtet.
Die Informationsbeschaffung war Ende der 60er Jahre ein großer Aufwand – da mussten nicht nur Zeitungen durchstöbert werden, auch Rundfunkskripte galt es zu lesen; an die heranzukommen, war nicht so leicht wie heute – kein Internet hielt Informationsteile bereit, Netzwerke zwischen Menschen liefen „analog“, per Brief und Telefon und persönlichem Gespräch.
Schockiert hat mich, die ich ja damit groß geworden bin, dass Dorothee Sölle eine wichtige Figur in der evangelischen Kirche darstelle, der Widerstand, der sich gegen diese Bewegung formiert hat, von oberster Ebene aus: vom Präses der evangelischen Kirche im Rheinland genauso wie vom Erzbischof von Köln. Die Auffassung, dass das Christentum eine eminent politische Angelegenheit sei, wurde von diesen nicht so geteilt. Anselm Weyer versucht, diese Position von der Geschichte der Kirchen in der Nazi-Zeit her zu erklären und es wird klar, dass da zwei Welten aufeinander prallten – eine Einigung konnte nicht erzielt werden, obwohl der Präses sich der Bekennenden Kirche verbunden fühlte.
Ein anderer Name aus meiner Jugendzeit, den ich in diesem Zusammenhang nicht unbedingt erwartet hätte, war der von Ulrike Meinhof. Sie hatte einige Jahre, bevor in Köln die Nachtgebete begannen, den 12. Evangelischen Kirchentag begleitet und sich fundiert mit dem Anspruch von Kirche als gesellschaftlich relevanter Mitspielerin auseinandergesetzt.
Insgesamt legt Anselm Weyer eine gut lesbare Einführung in die Geschichte des politischen Nachtgebets vor, illustriert mit Fotos von Chargesheimer und Oswald Kettenberger (von diesem fotografierenden Ordensbruder kannte ich sonst nur eher meditative Bilder). Besonders die Aufnahmen von Kettenberger von einem der überfüllten Nachtgebete lassen die Stimmung der damaligen Veranstaltungen in unsere Zeit schimmern.
Anselm Weyer: Liturgie von links. Dorothee Sölle und das Politische Nachtgebet in der Antoniterkirche, hrsg. für die Evangelische Gemeinde Köln von Markus Herzberg und Annette Scholl, Reihe „Lesezeichen“, Greven Verlag, Köln, 2016, ISBN: 9783774306707
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