Die Münchmeyer-Romane von Karl May – Der verlorene Sohn

Die Münchmeyer-Romane von Karl May – Der verlorene Sohn

„Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends“ ist derjenige in der Reihe der Münchmeyer-Romane von Karl May, der am tiefsten in die Abgründe der menschlichen Gesellschaft vordringt; jedenfalls so, wie Karl May sich das vorgestellt hat. Von August 1884 bis Juni 1886 erschien dieser Roman. Im Gegensatz zu „Das Waldröschen“ und „Die Liebe des Ulanen“ handelt es sich hierbei fast um einen Heimatroman, denn er spielt ausschließlich in Dresden und Umgebung. Exotik kommt nur quasi zweiter Hand hinzu, da die Hauptfigur ihr Vermögen in Indien (oder Madagaskar) machte und an einer Stelle davon berichtet. Die Handlung selbst verirrt sich nicht bis nach Fernost.

Eine andere Besonderheit dieses Romans betrifft den Inhalt. Er unterteilt sich in fünf „Abtheilungen“, deren jede einen eigenen Roman darstellt. Schon das Personentableau macht dies deutlich. Jede dieser eigenen Geschichten entfaltet eine Vielzahl an Verwirrungen und Verwicklungen, wie Karl May sie in seinen Kolportageromanen so liebte. Sie alle nachzuzeichnen, ist in diesem Beitrag unmöglich. So werde ich bei jeder Geschichte nur Teile erwähnen, die für die Haupthandlung von Bedeutung sind. Wenn Sie an der ganzen Geschichte interessiert sind, kann ich in diesem Fall wirklich empfehlen, dieses Werk selber zu lesen; aufgrund der Themenkreise, die Karl May aus eigener Anschauung kannte – sei es das Innere eines Gefängnisses oder das Leben in einem der Weberdörfer in Erzgebirge –, ist „Der verlorene Sohn“ in vielen Bereichen einmalig im Werk Karl Mays.

Der Inhalt

Die fünf „Abtheilungen“ (so schreibt Karl May das im Original) des Romans werden durch eine durchgehende Geschichte zusammengehalten:

Gustav Brandt wird zu Unrecht beschuldigt, den Baron Otto von Helfenstein und Hauptmann von Hellenbach ermordet zu haben. Er wird verhaftet und soll per Zug in die Residenz geführt werden. Dabei wird er befreit und zwar von den beiden Schmieden des Dorfes, die den wahren Täter kennen, sich aber nicht trauen, gegen ihn aufzutreten. Es handelt sich um den Neffen des Barons, Franz von Helfenstein. Nach dem Mord brennt das Schloss nieder und in den Ruinen findet man eine Kinderleiche, von der angenommen wird, es sei Robert von Helfenstein, der Sohn des Barons. Da der Erbe tot ist, kann Franz Baron werden. Roberts ältere Schwester Alma, die mit dem Hauptmann von Hellenbach verlobt gewesen war, glaubt nicht an Gustavs Schuld.

Alma hat Gustav nicht vergessen.
Alma hat Gustav nicht vergessen.

Zwanzig Jahre nach diesem Geschehen setzt die Handlung wieder ein und wir erleben den Kampf zwischen zwei geheimnisvoll auftretenden Männern: dem „Fürst des Elends“ und einem Räuberhauptmann, der in Stadt und Land mithilfe vieler Verbündeter das Elend der Armen ausnutzt. Als Leserin erfahre ich bald, dass es sich bei dem ersteren um Gustav Brandt handelt und beim zweiten um Franz von Helfenstein, Baron. Durch Maskierungen, heimliche Verfolgungen, geheime Versammlungen und Codewörter wird der Abenteuergehalt der Geschichten gesichert. Natürlich überführt am Ende Gustav Brandt seinen Gegenspieler, wird rehabilitiert und geadelt und darf dann endlich Alma von Helfenstein, seine Jugendliebe, heiraten.

Zu den einzelnen „Abtheilungen“ des Romans.

Die erste Abteilung ist übertitelt mit „Die Sclaven der Armuth“. Wir begegnen hier der Familie Bertram, die ohne eigenes Verschulden in Armut geriet. Zu ihr gehört ein junger Mann, Richard genannt, der sich als Dichter hervorgetan hat. Er ist ein angenommenes Kind. Bei dem Versuch, Fanny von Hellenbach, seine Muse, deren Fenster er einsehen kann, vor einem Einbrecher zu schützen, gerät er in Gefangenschaft. Gustav Brandt, alias der Fürst von Befour und eben der „Fürsst des Elends“, der in der feinen Gesellschaft für Furore sorgt, vermutet, dass es sich bei dem jungen Mann um Robert von Helfenstein handelt. Ursache für das Elend der Familie Bertram ist Franz von Helfenstein, der als Hausbesitzer im Hintergrund gnadenlos die Eintreibung der Miete vorantreibt und so die Familie auseinanderreißt. Marie Bertram kommt als Stubenmädchen in seinen Haushalt und wird von ihm vergewaltigt. Danach ist sie völlig apathisch. In diesem Zustand wird sie in ein Bordell gebracht.

„Die Sclaven der Arbeit“ ist der Titel des zweiten Teils und hier folgen wir Franz von Helfenstein in ein Dorf im Erzgebirge, wo er mit dem Fabrikanten Seidelmann Geschäfte macht. Seidelmann und Sohn sind von ähnlichem Schlag und beuten die Weber aus, die in Heimarbeit um einen Hungerlohn für den Fabrikanten Stoffe produzieren. Indem bei der Übergabe der fertigen Stücke nicht vorhandene Mängel konstatiert werden, wird der karge Lohn weiter gedrückt, so dass viele Familien Hunger leiden. Fritz Seidelmann, der Sohn, stellt einem hübschen Mädchen, Angelika Hofmann, erst einmal erfolgreich nach, doch am Ende besinnt sie sich, wendet sich von ihm ab und Eduard Hauser, einem jungen und guten Weber, zu, der sie vor den Zudringlichkeiten Fritz‘ beschützt. Währenddessen hat sich Gustav Brandt im Forsthaus eingemietet und deckt die Machenschaften der Seidelmanns auf, so das am Ende Eduard Hauser an ihre Stelle treten kann, natürlich mit einem wesentlich menschenfreundlicheren Geschäftskonzept.

Mit „Die Sclaven der Schande“ begibt sich Karl May nun in die Regionen von Bordell, Gefängnis und Irrenhaus. Im Bordell begegnen wir Marie Bertram wieder. Nicht nur sie wurde zur Prostitution gezwungen; das Kapitel „Ein Magdalenenhändler“ führt uns in den systematischen Mädchenhandel ein. Hauptbeteiligter ist ebenfalls ein Seidelmann, der „fromme Schuster“, der den Webern im Dorf seines Bruders ihre Groschen zu Missionszwecken abluchste. Der Alltag im Gefängnis und Irrenhaus wird ebenfalls schonungslos beschrieben. Auch Theaterintrigen haben in diesem Teil ihren Platz, genauso wie das leichtfertige Leben einiger Offiziere.

Natürlich hat Franz von Helfenstein gegen Gustav keine Chance
Natürlich hat Franz von Helfenstein gegen Gustav keine Chance

In „Die Sclaven des Goldes“ geht es vor allem um die kriminellen Machenschaften des Franz von Helfenstein, darunter auch Geldfälscherei. Durch das Eingreifen Gustav Brandts sind die vielfältigen „Geschäftsbereiche“ des Barons nach und nach zusammengebrochen. Der Fürst des Elends offenbart sich seiner Jugendliebe Alma und setzt dem Räuberhauptmann Franz von Helfenstein eine Frist. Um der drohenden Entlarvung zu entgehen, plant dieser einen letzten Coup: einen Einbruch beim Fürsten von Befour, der dazu führt, dass alle Beteiligten gefangen genommen werden. Vorher hat die eigene Ehefrau Ella gegen Franz ausgesagt; sie war früher Almas Zofe, hübsch und ehrgeizig, wurde aber dann von ihrem Mann durch ein Gift ihrer Bewegungsfähigkeit beraubt und war aus Rache ihm gegenüber nach ihrer Rettung zu dieser Aussage bereit.

Die letzte Abteilung „Die Sclaven der Ehre“ bringt die erwünschten Auflösungen: Nach einigen Schwierigkeiten, seine Identität zu beweisen, wird Richard Bertram als Robert von Helfenstein anerkannt; Franz von Helfenstein und seine Genossen werden in einem ein Jahr währenden Prozess verurteilt – und was Gustav Brandt erwartet, habe ich ja oben bereits erwähnt.

Nebenhandlungen

Nicht dass Sie jetzt denken, alle fünf Abteilungen dieses Buches seien durchgehend dramatisch oder schilderten ausschließlich existenzielle Nöte. Das wäre in einem der Münchmeyer-Romane nun wirklich völlig fehl am Platze. Natürlich gibt es auch hier reichlich Figuren mit komischem Potenzial und absurde Szenen.

Ausgaben

Bei diesem Mammutroman hat der Karl-May-Verlag besonders drastische Kürzungen vorgenommen; es gibt nur die Bände „Der Fremde aus Indien“ und „Das Buschgespenst“, also die beiden Teile, in denen der Abenteuercharakter überwiegt. Das sind die Bände 64 und 65. In der Stadtbibliothek Köln habe ich in den 80er Jahren die Faksimileausgabe aus der Olms-Presse in die Finger bekommen und war völlig fasziniert; leider ist sie im Katalog nicht mehr verzeichnet. Inzwischen bin ich glückliche Besitzerin dieses Romans in der historisch-kritischen Ausgabe für die Karl-May-Stiftung von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger – ein ungelesenes Exemplar, antiquarisch erstanden. Der Text ist auch online zu finden und zwar bei der Karl-May-Gesellschaft.

Persönlicher Eindruck

Alma ist vom neuen Schloss begeistert.
Alma ist vom neuen Schloss begeistert.

Die beiden mir in meiner Jugend zur Verfügung stehenden Bände aus dem Karl-May-Verlag habe ich damals einfach so als kleine Abenteuerbücher gelesen. Meine Vorliebe für geheimnisvolle Versammlungsräume, Maskeraden und Geheimgesellschaften kennen Sie ja bereits. Als ich dann zum ersten Mal das Gesamtwerk las, hat mich die Fülle an Personen schier erschlagen. Ich habe mir tatsächlich die Mühe gemacht, für mich einmal zu notieren, wie viele wirklich handlungstragende Personen hier auftreten und bin auf über einhundert gekommen. Völlig ungewohnt war damals für mich, dass Karl May die sexuellen Verfehlungen ziemlich klar schilderte; aufgrund seiner eher stereotypen Darstellungen weiblicher Schönheit und schicklichen Verhaltens hatte ich ihm so etwas ehrlich gesagt nicht zugetraut. Seine realistischen Schilderungen des Leids der Weber im Erzgebirge beruhten ebenso wie die, die im Gefängnis spielten, auf eigener Erfahrung. Kritiker warfen und werfen Karl May vor, dass er die Elendszustände auf das Fehlverhalten Einzelner zurückführte und keine Systemkritik übte; doch Systemkritik war nicht das Metier von Karl May. „Der verlorene Sohn“ ist für mich der beste der Münchmeyer-Romane, spannend, zeitgenössisch und in vielen Passagen erschreckend realistisch. Wenn Sie es schaffen können, über die Kitsch-Anteile hinwegzusehen, kann ich Ihnen dieses Werk nur empfehlen.

Linksammlung

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

4 Comments

  • Maike

    2. September 2016 at 13:07 Antworten

    Spannend! Da habe ich wirklich etwas verpasst, weil ich davon nur kenne, was im Karl-May-Verlag erschienen ist (und die Bände habe ich damals als nicht so grandios wie anderes von Karl May empfunden). Vielleicht muss ich mir da irgendwann wirklich einmal den ganzen Roman vornehmen.

    (Habe ich übrigens schon erwähnt, dass ich deine Bildunterschriften in dieser ganzen Artikelserie wirklich genieße? Wenn nicht, tue ich es hiermit!)

  • Michael Hemkemeyer

    2. September 2016 at 22:44 Antworten

    Zum Punkt Ausgaben sei ergänzt, dass der Karl-May-Verlag durchaus – allerdings erst Jahrzehnte nach Veröffentlichung der Bände 64 und 65 – weitere Teile des Romans in die Reihe Karl May’s Gesammelte Werke aufgenommen hat:
    Bd. 74 Der verlorene Sohn
    Bd. 75 Sklaven der Schande
    Bd. 76 Der Eremit (zwei Teilerzählungen)
    Weiterhin ist mit dem Roman ein Fragment assoziiert, das unter dem Titel Sklaven des Ehrgeizes in Bd. 79 Old Shatterhand in der Heimat veröffentlicht worden ist.
    Darüber hinaus existieren zwei frühere Bearbeitungen des Stoffes (Aus dem Kelch des Schicksals und Der Doppelgänger), die in Bd. 90 Verschwörung in Wien aufgenomen worden sind.

    • Heike Baller

      3. September 2016 at 10:11 Antworten

      Lieber Herr Hemkemeyer, vielen Dank für die sachkundige Ergänzung. Da habe ich den Überblick verloren.
      Diese Editionsgeschichte belegt sehr schön meine Aussage, dass es sich beim „Verlorenen Sohn“ um mehrere unabhängige Geschichten handelt.

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