Oh, wie habe ich damals die Krimis von Anne Perry verschlungen. Thomas und Charlotte Pitt habe ich auf ihrem Lebensweg begleitet – fast bis zur Krönung von Pitts Karriere. Irgendwann bin ich ausgestiegen. Zu den Gründen komme ich am Ende noch mal. Nun hat Anne Perry den Sohn von Thomas und Charlotte losgeschickt: Daniel ist Rechtsanwalt, jüngstes Mitglied einer angesehenen Kanzlei. Und inzwischen ist es 1910.
Was erzählt Anne Perry?
Auf der Buchrückseite wird von dem Mord an einer Frau durch ihren Ehemann gesprochen, dem Todesurteil und der kurzen Frist, die Daniel bleibt, dem Mandanten seine Unschuld nachzuweisen. An die er selber nicht glaubt.
Doch das Buch beginnt mit einem völlig anderen Prozess. Daniel verteidigt einen Hallodri, einen alten Bekannten seines Vaters. Auch er ist des Mordes angeklagt und es sieht sehr schlecht aus.
Nachdem Daniel den ersten Prozess gewonnen hat, gesellt er sich dem älteren Kollegen aus der Kanzlei zu, dem er in dem zweiten und gewichtigeren Mordprozess zuarbeiten soll. Sie verlieren, das Todesurteil wird verkündet und es bleiben noch drei Wochen, um es anzufechten. Auf der Suche nach übersehenen Einzelheiten macht sich Daniel auf den Weg, das Heim seines Mandanten zu erkunden. Er lernt das Personal und die Familie kennen. Und erhält dabei nicht den besten Eindruck von seinem Mandanten. Mithilfe der wissenschaftlich ausgebildeten Tochter seines Chefs macht er, nein, macht sie, eine verblüffende Entdeckung. Nun ist der Freispruch seines Mandanten sicher.

Achtung: in dem Abschnitt über die Gewalt an Frauen am Ende des Beitrags kann man die Lösung des Krimis leicht erschließen. Wer sich die Spannung nicht nehmen lassen will, sollte diesem Teil nicht lesen !
Wie schreibt Anne Perry?
Über den Stil von Anne Perry habe ich mich nie viele Gedanken gemacht. Für mich stand immer die Geschichte selbst im Vordergrund. Schließlich handelt es sich um Spannungsliteratur. Doch wie baut sie diese Spannung auf?
Es wechseln Szenen mit vielen Dialogen mit den nachdenklichen Szenen ab; in diesen spürt die Autorin den Gedankengängen ihrer Figuren nach und lässt mich daran teilhaben. Gerade hier wechselt sie die Innenperspektive gelegentlich. Auch Daniels Eltern Thomas und Charlotte kommen so zu ihrem Recht. In den beschreibenden Szenen wahrt sie die Balance zwischen detailliert und „der Fantasie einen Freiraum lassen“.
Anne Perry: Todesurteil im Old Bailey, übersetzt von K. Schatzhauser, Heyne Verlag, München, 2017, ISBN: 9783453423008
Die Stadtbibliothek Köln hat den Titel als Taschenbuch im Bestand.
Häusliche Gewalt im Abstand von mehr als 100 Jahren betrachtet
So sehr ich die Krimis von Anne Perry in den achtziger und neunziger Jahren geschätzt habe, sind mir doch einige ihrer Themen zeitweise auf den Keks gegangen. In meinen Augen hatte sie es zu oft mit sexuell abnormen Verhalten. Und sehr häufig ging es um häusliche Gewalt. So wie in diesem Start einer neuen Krimi-Reihe.
Wir leben nun rund 110 Jahre nach Daniel und seinen Mitmenschen. Gerade jetzt, wo ich das hier schreibe, wird im Rahmen der Kontaktbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie ebenfalls auf die Gefahr wachsender häuslicher Gewalt hingewiesen:
Familien werden gegen bisherige Gewohnheit auf längere Zeit auf ihre Wohnungen beschränkt – keine Schule, kein Büro- oder sonstiger Job außerhalb der eigenen vier Wände; bedrückend.
Diese Gewalt, sei sie nun physisch oder psychisch, ist genauso unsichtbar, wie die, unter der das angenommene Opfer einer Mordtat gelitten hat. Nun kann eine Krimiautorin sich eine Geschichte ausdenken, wie eine Frau der häuslichen Hölle entkommen kann. Für die Realität taugt das gar nichts. Da gilt es für die Umwelt hinzusehen, aufmerksam und empathisch zu sein und gegebenenfalls Telefonnummern oder Adressen von Hilfsinstitutionen zur Hand zu haben. Deshalb kopiere ich für Sie hier an dieser Stelle eine solche Liste einfach mal rein – mit Dank an mein Netzwerk Texttreff, in dem solche Informationen geteilt werden:
- Bundesweites Hilfetelefon: https://www.hilfetelefon.de/, Tel.: 08000–116 016 (macht telefonische und E-Mail-Beratung)
- Weißer Ring: https://weisser-ring.de/, Tel.: 116 006 (macht telefonische und E-Mail-Beratung)
- Frauen gegen Gewalt e. V.: https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/hilfe-beratung.html und https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/selbsthilfe.html
- Frauenhaussuche: https://www.frauenhauskoordinierung.de/hilfe-bei-gewalt/frauenhaus-und-fachberatungsstellensuche
Ja, leider sind solche Hinweise nötig. Mord mag im Krimi spannend sein – Gewalt im realen Leben ist es nicht.
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