Löwen wecken von Ayelet Gundar-Goshen

Löwen wecken von Ayelet Gundar-Goshen

Nachdem mich das“Lügnerin„, „Buch für die Stadt 2019“ so fasziniert hatte, habe ich mich mit Vorfreude über „Löwen wecken“ hergemacht – und wurde nicht enttäuscht.

Was erzählt Ayelet Gundar-Goshen in „Löwen wecken“?

Für mich besteht die Metaebene der Geschichte darin, was das Bild, das sich jemand von mir macht, mit meinem Selbstbild anstellt.

Etan Grien, Neurochirurg in Beer Scheva, überfährt bei einer spontanen nächtlichen Exkursion in die Wüste mit seinem Jeep einen illegalen Einwanderer. Schock. Und dann – Flucht. Niemand ist da, niemand weiß etwas – es ist nicht geschehen.

Doch es ist geschehen. Und – jemand hat es gesehen. Die Ehefrau des Opfers. Sie steht am nächsten Tag mit dem verlorenen Portemonnaie Etans vor der Tür und verlangt eine Gegenleistung. In der Folge verstrickt sich Etan in ein Lügengespinst, um zu verheimlichen, was er nachts macht: Illegale Einwanderer und Einwanderinnen medizinisch versorgen.

Seine Frau Liat ist Kriminalbeamtin. Sie bekommt den Fall mit dem überfahrenen Mann auf den Tisch – und will herausfinden, wer Schuld an dessen Tod trägt. Ihre Umgebung sieht das anders – das ist doch nur ein „Infiltrant“. „Infitranten“ ist die Bezeichnung für die Menschen, die sich illegal in Israel aufhalten – ich finde dieses Wort erschreckend und entlarvend.

Sirkit, die Ehefrau des Überfahrenen, kann Hebräisch – sie übersetzt in den Nächten zwischen Etan und seinen „Patientinnen und Patienten“ und übernimmt Handreichungen bei der Behandlung. Etan entdeckt verblüfft, was sie alles kann; sie hat als Kind bei einer mobilen medizinsichen Station viel gefragt und viel erklärt bekommen – Medzin fasziniert sie.

 Ayelet Gundar-Goshen springt unvermutet von einer Perspektive in die andere und nimmt mich mit ins Innenleben der drei und auch der anderen Figuren. Ich sehe die Verletzungen ihrer Jugend und Kindheit, ihr Selbstbild und wie sie ihr Verhalten im Bild der anderen von sich ausrichten. Liats Ehrlichkeit und ihr Vertrauen ins eine Ehrlichkeit macht Etan sehr zu schaffen …

Und nein, nach den vielen Innensichten überrascht mich die letzte Enthüllung von Sirkit nicht mehr.

Ayelet Gundar-Goshen hat eine spannungsgeladene Geschichte gesponnen – wie eine falsche Entscheidung andere nach sich zieht, wie Selbst- und Fremdwahrnehmung Entscheidungen beeinflussen.

Welchen Stil hat „Löwen wecken“?

Einen präzisen. Als psychologisch geschulte Frau – Ayelet Gundar-Goshen hat Psychologie studiert – leuchtet sie die verschiedenen Ebenen der Seele aus. Die Hauptfiguren in „Löwen wecken“ sind komplexe Charaktere; die Autorin zeichnet sehr detaillierte Psychogramme, nimmt mich mit ins Innerste und macht erfahrbar, was passiert, wenn man sich diese verschiedenen Ebenen im Innern bewusst wird.

Ein paar Beispiel dafür, wie Ayelet Gundar-Goshen schreibt:

Er versetzte Samar einen letzten Faustschlag und wollte auch der da eine Lektion erteilen, als ihm plötzlich etwas Kaltes in den Bauch fuhr, hinein durch die Schichten von Fett und Langeweile, bis ins Mark.

S. 322)

Aber diesmal kam ihm anstelle der Übelkeit etwas anderes hoch. Der Anfang eines furchtbaren Zorns. Das dünne Schwanzende des Zorns.

S. 102

Alle schauen, aber ihre Augen sind trocken. Sie hat keine Tränen für ihn. Alle halten gute Worte bereit, aber um gute Worte zu bekommen, musst du Tränen geben.

S. 57
Augenpartie eines Löwen zu Löwen wecken von Ayelet Gundar-Goshen
In den Blick dieses Löwen kann ich mich verlieren

„Löwen wecken“ ist ein Bild, das z. B. in dem Satz mit dem dünnen Schwanzendes des Zorns auftaucht, in den Augen Liats die mal Zimt, mal Gold, mal Nüsse und mal löwenartig sind – die Kraft darin kann sich nach außen wie nach innen wenden. Nichts in diesem Buch ist eindeutig.

Ayelet Gundar-Goshen hat ein faszinierendes Buch geschrieben – eine Autorin für Fans von Präzision, Bildkraft und eben Innensicht.

Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken, übersetzt von Ruth Achlama, Zürich, kein und aber, 2015, ISBN: 97830836959405

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

2 Comments

  • Ruth Leukam

    20. Januar 2020 at 8:53 Antworten

    Hallo Heike,
    Deiner Rezension kann ich nur zustimmen. „Löwen wecken“ ist wirklich ein ganz großer Roman. Er ist psychologisch höchst spannend und gleichzeitig erfährt man einiges über die israelische Gegenwart. Wir haben ihn vor einigen Jahren in meinem Lesekreis besprochen und eigentlich alle waren begeistert.
    Liebe Grüße
    Ruth

    • Heike Baller

      20. Januar 2020 at 11:02 Antworten

      Danke für die Bestätigung, Ruth. Ayelet Gudar-Goshen werde ich auf jeden Fall im Auge behalten.

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