Der Fall Collini von Ferdinand von Schirach

Der Fall Collini von Ferdinand von Schirach

Zugegeben: Ferdinand von Schirach hat den Roman bereits 2011 geschrieben – ich möchte ihn trotzdem vorstellen. Denn er hat mich fasziniert.

Was erzählt Ferdinand von Schirach?

Es ist auf keinen Fall ein „Whodunnit“-Krimi – der Mörder von Hans Meyer steht von Anfang an fest. Daran ändert sich auch im ganzen Roman nichts.

Ungewöhnlich ist das Schweigen des groß gewachsenen Mannes, des Mörders. Fabrizio Maria Collini, der seit über dreißig Jahren in Deutschland lebt und bis zum Ruhestand gearbeitet hat, unbescholten, bescheiden, ruhig.

Er schweigt auch gegenüber seinem Pflichtverteidiger. Das ist der junge Rechtsanwalt Caspar Leinen, dessen erster Fall er ist.

Der erfährt nach Übernahme des Mandats, dass der Ermordete ein väterlicher Freund war, der Großvater seines Schulfreundes, mit dessen Namen sich lauter gute Erinnerungen verbinden. Bis auf den Unfalltod des Freundes und seiner Eltern. Ein Moment, in dem sich Caspar Leinen und Hans Meyer noch einmal sehr nahe kommen in ihrem gemeinsamen Verlust.

Caspar Leinen will das Mandat zurückgeben – entscheidet sich aber auf Anraten eines älteren Kollegen dagegen.

Stich des Kriminalgerichts in Berlin-Moabit, ein Handlungsort im Roman von Ferdinand von Schirach
Imposanter Bau aus dem 19. Jahrhundert. Hier findet der Prozess statt.

Als Leserin bekomme ich verschiedene Blickpunkte geboten, vor allem die Innensicht Caspars, aber auch Einblicke in das Leben des erfolgreichen älteren Kollegen und nüchterne Schilderungen – der Handlungen Collinis nach dem Mord, des Prozesses. Ich erfahre, welche Hintergründe die einzenlen Menschen mitbringen, die in das Verfahren involiert sind. An einer Stelle lässt Ferdinand von Schirach den junen Anwalt genau darüber sinnieren: Dass acht Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen über einen anderen Menschen richten sollen. Ein grundlegendes Dilemma.

Letzten Endes macht die Geschichte dann doch eine Wendung. Kernpunkt ist eine Gesetzesänderung aus den 60er Jahren, die Taten aus der NS-Zeit der Verjährung anheimgab. Bekannt unter dem Stichwort „Verjährungsskandal“. Caspar Leinen folgt einer spontanen Erkenntnis – es geht um die Mordwaffe – und nutzt eine mehrtägige Pause im Prozess zum Aktenstudium in der Außenstelle des Bundesarchivs in Ludwigsburg. In Folge dessen versucht der Anwalt der Meyer-Werke, ihn zu kaufen. Doch der junge Mann erweist sich als unbestechlich. Wie er überhaupt hehren Idealen folgt.

Ferdinand von Schirach kennt sich als ehemaliger Strafverteildiger im Bereich der Justiz gut aus. Im letzten Teil des Romans führt er den rechtsgeschichtlichen Aspekt in seinen Folgen aus und vor.

Wie erzählt man so was?

Ferdinand von Schirach ist ein knapper, nüchterner Erzähler. Dabei hat er einen Blick für Einzelheiten, die dann wiederum Emotionen transportieren, ohne dass er emotional wird.

So steht da nur:

Als Leinen die Leiche sah, wurde ihm schlecht.

S. 56

Dann erst folgt nüchtern die Beschreibung der Leiche. Ich kann nachvollziehen, warum dem jungen Mann übel wird. Das muss der Autor nicht auswalzen.

Auch „komische“ Szenen gibt es. Der Wachtmeister, der Collini in die Zelle zurücführen soll, wird mit ausgewählten Details beschrieben. Der Abschnitt endet:

Er sah auf Collinis Brust und sprach ins Leere: „So, nun wollen wir mal.“

S. 75

Die knappe klare Sprache lässt Platz für eigene Bilder und Gedanken rund um das, was da im Namen Justitias geschieht.

Auf gerade mal 200 Seiten hat Ferdinand von Schirach eine dichte Geschichte gewoben, die weit über das Romangeschehen greift und Diskussionsstoff bietet für alle, die den Umgang mit NS-Verbrechen in der jungen BRD kennenlernen wollen.

Ferdinand von Schirach. Der Fall Collini, Piper Verlag, München, 2011, ISBN: 9783492054751

Die Stadtbibliothek hält nicht nur Buch, E-Book und Hörbuch parat, sondern auch die Verfilmung.

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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