Was Ruth Frobeen da vorlegt ist ein Parforceritt ihrer Heldin Ylvie Unverdorben zu sich selbst. Und wie es Parforceritte so an sich haben: Unterbrechung schlecht möglich. Das habe ich bei meiner Weihnachtsbäckerei gemerkt – ein Blech Pfefferkuchen ist ganz schön dunkel geraten …
Sie sehen – das Buch hat mich gepackt. Und warum? Drei Gründe:
- Ruth Frobeen kann so erzählen, dass ein Sog entsteht.
- Dann ist am Anfang nicht ganz klar, was Ylvie denn so aufreibt – ich wollte das unbedingt wissen 😉
- Zudem sind da die sechs Sätze ganz am Anfang, die so enden:
Er ist tot. Mein kleiner Burder. (S. 6)
Sie sehen – Spannung kann Ruth Frobeen aufbauen. Aber dann hat sie so eine lakonische Art, die Geschichte zu erzählen, einfach nur so. Und spannend bleibt es. Ja, es ist die Perspektive von Ylvie. Ich erlebe alles aus ihrer Sicht. Aber da ist auch diese präzise Erzählerin, die mit Bildern vermittelt, was Ylvie fühlt:
Ylvie wollte sich in ihr Schneckenhaus zurückziehen, doch da war keins, weil sie eine Nacktschnecke war. (S. 103)
Aber nicht dass Sie jetzt denken, das sei alles todtraurig und bierernst. Nein, Die Bilder von Ruth Frobeen können auch heiter, ja humorvoll sein:
Wenn sie über etwas nachdachte, ohne es aufzuschreiben, konnte es passieren, dass ihre Gefühle sich zu wichtig machten. Aber wenn sie schrieb, reihten sich die Gedanken höflich auf, machten einen Knicks vor den Gefühlen und tanzten mit ihnen auf einer bis zum Horizont reichenden Tanzfläche. (S. 103)
Okay, jetzt habe ich über den Stil von Ruth Frobeen genug palavert, jetzt mal zum Inhalt.
Was erzählt Ruth Frobeen?
Yllvie Unverdorben hat genau den richtigen Namen für eine Erotikschriftstellerin, finden Sie nicht auch? Und damit ist sie sehr erfolgreich. Und sehr unglücklich. Die Begegnungen mit Lesern und ihren sexuell aufgeladenen Wünschen beim Signieren ärgern und frustrieren Ylvie. Sie macht einen Cut. Schneidet ihre Haarmähne ab, bringt den Hund zur Freundin und fährt recht kurz entschlossen nach Island, um dort zu schreiben. Das zu schreiben, was zu schreiben ihr notwendig ist: Die Geschichte ihres Bruders. Im Laufe des Buches setzt sich das Puzzle um Tom, den jüngeren Bruder Ylvies, zusammen – immer kränklich, immer gehätschelt, von ihr als Kind und Jugendliche oft als nervig empfunden. Dieser Tom hat seinem Leben ein Ende gesetzt. Drei Jahre vor Beginn der Handlung. Was ist schief gelaufen? Was ist in dieser Familie an Verletzungen passiert?
So ungefähr kann ich mir den Inhalt des Buches, an dem Ylvie im Laufe der Handlung schreibt, zusammenreimen. Erfahren tu ich nichts Konkretes. Aber ich erfahre, wie sie ihr Schreiben erlebt. Was es mit ihr macht, was sie dafür braucht. Ich erlebe ihre Sicht auf die Dinge – genau wie Tom, der ihr auf der Fähre begegnet. Ein Isländer, der mit Bustouren sein Geld verdient und vorhat, was anderes zu machen. Ein Pessimist? Die Mücken, die Ylvie im Kopf herumschwirren, sitzen bei ihm still an der Wand – er bekommt den Hintern nicht wirklich hoch, fühlt sich von seiner Schwester immer übertrumpft. Eine Gesprächssituation ist mir besonders haften geblieben: Ylvie und Tom sitzen in Ylvies Kabine auf der Fähre und trinken Wasser. Es geht um „halbvoll oder halbleer“. Dann fragt Ylvie ihn, was wohl passiere, wenn er das Glas fallen ließe. Sofort zählt Tom all‘ die Folgen auf: Scherben, die zusammengefegt werden müssen, Pfützen, die trockengelegt werden müssen. Alles so negativ, belastend, unnötig. Und sonst?, hakt Ylvie nach. Tom ist irritiert. Ylvie gibt die Antwort selber: Dann hast Du beide Hände frei.
Dieser Satz erweist sich als handlungsförderlich – immer wieder kommen die beiden darauf zurück.
Neben Tom und Ylvie hat Ruth Frobeen noch mindestens zwei weitere spannende Figuren erschaffen.
- Toms Schwester – eine mystisch angehauchte Person, perfekt freundlich und als Mittlerin zwischen Elfen und Menschen tätig – ja, der Großteil der Handlung spielt in Island und da ist das so.
- Margret, die Enkelin des Krämers vor Ort – mit einem geheimen Leben und einer großen Leidenschaft.
Und dann ist da Island selber. Ruth Frobeen schildert eine Landschaft, die ich mir gar nicht vorstellen kann (optische Vortstellungen sind nicht meins, grundsätzlich), aber ich bekomme die Gefühle mit, die sie bei Ylvie auslöst.
Können Sie nach dem kurzen Abriss verstehen, dass mich dieser Debutroman in den Bann gezogen hat? Ich kann Ihnen das Buch nur wärmstens ans Herz legen.
Ruth Frobeen: Mücken an der Wand. Alles ist möglich, Vielleicht, Ruth Frobeen, 2017, ISBN: 9783981940015
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