Ein ruhiges Baby ist eine feine Sache – für die Eltern, die können nämlich durchschlafen. Ein völlig bewegungs- und blickloses Baby dagegen hat etwas Beunruhigendes. Laut Amélie Nothomb, deren fiktive Kleinkindbiographie heute mein Thema ist, fanden die Eltern in diesem Falle das Kind ohne Reaktion ganz in Ordnung. Wie das Baby selbst sich empfand?
Gottes Augen waren ewig offen und starr. (…) Er war voll und dicht wie ein hartes Ei, mit dem er auch die runde Form und die Unbeweglichkeit gemein hatte. (S. 5)
Das Wesen in der Wiege nahm sich wenn überhaupt als Röhre wahr – geeignet, Nahrung durchzuschleusen, vom Trinken bis zum Endergebnis in der Windel.
Ort des Geschehens ist Japan – und hier werden Kinder bis zu ihrem dritten Lebensjahr vergöttert. Das passte sehr gut zur Selbstwahrnehmung der kleinen Amélie, nachdem sie das Röhren- oder Pflanzendasein hinter sich gelassen hatte.
Nun hatte ich schon vier Personen ihren Namen gegeben und das machte sie jedesmal so glücklich, dass ich an der Bedeutung des Sprechens nicht mehr zweifeln konnte: Es bewies dem einzelnen, dass er da war. Ich schloss daraus, dass die Leute sich dessen nicht sicher waren. Sie mussten es erst von mir gesagt bekommen. (S.44)
Ja, hier gehts ums Sprechenlernen …
Der Stil vom Amélie Nothomb hat mir viel Freude gemacht – die Gedanken, die das kleine Kind da so von sich gibt, sind wohl gedacht und wohl formuliert und entbehren nicht eines gewissen Verblüffungspotentials und das nicht nur, weil sie einem Kleinkind zugesprochen werden. Als Wasserliebhaberin haben mich die Schilderungen von Wasser, vom Schwimmen besonders beeindruckt. Amélie Nothomb schreibt humorvoll, überspitzt die abstruse Ausgangssituation: Die kleine Amélie kann ihr göttliches Selbstverständnis aus der Anfangszeit nicht ganz vergessen.
Wie Sie sich vorstellen können, wird auch sie aus ihrem Paradies vertrieben – und wie! Dazu verrat ich aber nix 😉
Insgesamt ein wirklich unterhaltsames, manchmal auch nachdenklich stimmendes Buch, in dem eine skurrile Ausgangssituation konsquent durchgezogen wird.
Ach ja, Amélie – die große wie die kleine – ist in Japan aufgewachsen und so erfährt man im Buch einiges über den japanischen Alltag so um 1970 und die Kultur Japans.
Amélie Nothomb: Die Metaphysik der Röhren, übersetzt von Wolfgang Krege, Diogenes Verlag, Zürich, 2002, ISBN: 9783257233995
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