„Belinda“ – ein Entwicklungsroman aus der Feder von Maria Edgworth?
Ja – aber eine besondere Unterart. Denn im Gegensatz zu „normalen“ Entwicklungsromanen entwickelt sich die titelgebende Hauptfigur quasi gar nicht. Da für ihr Umfeld umso mehr.
Was erzählt Maria Edgworth?
Im Großen und Ganzen geht es um die Einführung einer jungen Frau in die Gesellschaft mit dem Ziel der Eheschließung. Belinda landet auf Empfehlung ihrer Tante, die schon einige ihrer Nichten in den Hafen der Ehe bugsiert hat, bei Lady Delacour. Das ist eine Gesellschaftsdame mit hohem Ansehen in London – wegen ihres Witzes, ihrer Bildung, ihrer guten Laune.
Doch Belinda ist anders. Sie hat keinen Gefallen an Prunk und Glanz und Oberflächlichem. Sie ist klug, belesen, bescheiden und vor allem ehrlich – eins der Themen im Roman.
Sie wird Lady Deacour eine echte Freundin. Deshalb sagt sie ihr ein paar unbequeme Wahrheiten. Am Ende ändert sich Lady Delacour und aus der launigen und launischen Gesellschaftsdame wird eine wesentlich glücklichere Frau.
Der junge Mann, der Belindas Gefallen erregt, sucht insgesamt sehr zu gefallen – zu sehr. Und hat ein männliches Geheimnis, inspiriert von Rousseaus Roman „Emile“. Auch er muss sich ändern, um Belindas würdig zu werden.
Maria Edgworth lässt ein reiches Tableau an Figuren auftreten, die alle bestimmte Haltungen im Umgang miteinander und mit Wahrheit und Ehrlichkeit verkörpern.
So gewinnt Belinda im Laufe der Zeit an Lebenserfahrung – aber ihr Charakter bleibt, wie er am Anfang war.

Wie ist das Buch geschrieben?
Der Roman ist 1801 in drei Bänden angelegt erschienen – eine typische Form der damaligen Zeit. Während die beiden ersten Bände gemütlich vor sich hin plätschern und viele Gespräche zu verschiedenen Themen ausbreiten – damit die Einstellungen aller klar werden -, braust der dritte Band plötzlich hochdramatisch daher, bekommt richtig Tempo und führt alle Hauptfiguren in ein furioses Finale. Das hat richtig Spaß gemacht zu lesen!
Insgesamt wird in der Erzählung deutlich, dass Maria Edgworth pädagogisch tätig war – ihr Erzählkommentar enthält viele Bemerkungen moralischer oder psychologischer Natur. Das ist nicht unangenehm, denn sie kommentiert mit Geschmack.
Auch wenn sie eine Zeitgenossin Jane Austens war, erinnert mich das Setting mehr an die Regency-Romane der Georgette Heyer – dort behandelt die Autorin dieselbe Ausgangssituation wie in Belinda mit locker-flockiger Ironie. Die fehlt hier – aber Maria Edgworth schildert ja eine Geschichte ihrer Zeit, ohne die zeitliche Distanz der Georgette Heyer.
Auch wenn das jetzt vielleicht dröge klingt, was ich über ihren Erzählstil schrieb – erzählen kann Maria Edgworth durchaus. Belinda gibt ihre Weisheiten manchmal als hübsche kleine Sentenz zum besten:
„Mir ist ein Sieg so viel lieber, dass ich, wenn ich sonst keinen erlangen kann, sogar mit einem Sieg über mich selbst zufrieden bin.“
S. 409
Während Wohlverhalten gerade von Frauen in der Gesellschaft, die Maria Egdworth schildert, eine conditio sine qua non ist, gibt es eine Szene, in der Lady Delacour Belinda regelrecht zum Lümmeln auffordert:
„.. und ich erlaube Ihnen vielmehr, in diesem Sessel zu sitzen, bis ich zurückkehre, mit den Füßen auf dem Kamingitter, einem Buch in der Hand und diesem kleinen Tisch neben sich, wie auf Lady S-s Gemälde von der Behaglichkeit.“
S. 548
Ich habe das Buch langsam und mit Genuss gelesen.
Maria Edgworth: Belinda, übersetzt von Gerlinde Völker, mit einem Nachwort von Katrin Berndt, Reclam Verlag, Ditzingen, 2022, ISBN: 9783150113752
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