Sofia ist die Tochter von Anna und die Mutter von Anna. Nein, nicht was Sie denken – sie hat halt ihre Tochter so genannt, wie ihre Mutter genannt wird. So was kommt vor. Völlig normal, ein Kind nach einem Großelternteil zu benennen.
Aber ansonsten ist das schon eine merkwürdige Familie: Sofias Großmutter backte früher jeden Tag Kuchen, bei ihrer Mutter hängt ein Porträt von Tolstoi, der quasi als Familienmitglied betrachtet wird und Sofia selbst schreibt Listen. Listen zu allen möglichen und unmöglichen Themen. Und in allen möglichen und unmöglichen Situationen. Statt am Strand bei der Suche nach ihrer Tochter Anna teilzunehmen, die verschwunden ist, schreibt sie eine Liste all‘ der Menschen, die Flox, dem Vater Annas, bei der Suche helfen. Sie schreibt Listen über „Filmreife Szenen“ in ihrem Leben, sie schreibt Listen mit Aussprüchen ihrer Umgebung – der Großmutter, der Mutter. Sie schreibt eine Liste „Worin ich meiner Mutter immer ähnlicher werde“ – und so weiter, ad infinitum. Denn das ist das Merkmal einer echten Liste: Sie endet nie. Und sie muss von Hand geschrieben werden. Ihre Mutter, Anna, findet das mehr als beunruhigend.
Zwischen die Szenen von Sofias Leben, das um die bevorstehende Operation ihrer Tochter kreist, stehen Szenen aus dem Leben von Grischa. Grischa, das wird im Laufe des Buches klar, war ein Bruder von Anna, der Mutter von Sofia, die eigentlich Anastasia heißt. Grischa war das Sorgenkind der Familie. Grischa war der, dem die Mutter von Anastasia, Andrej und Grischa „verfallen“ war. Grischa war anders.
Und Grischa schrieb Listen. Von Hand und zu allen möglichen und unmöglichen Themen. Sofia fand sie beim Ausräumen der Wohnung ihrer Großmutter.
Kurz gefasst: Die ganze Familie macht einen ziemlich traumatisierten Eindruck. Besonders Sofia, die die Geschichte ihrer Großmutter, ihres Onkels, ihrer Mutter und ihres Vaters im Laufe einiger Tage erfährt.
Lena Gorelik schreibt eine spannende Geschichte auf spannende Weise. Streckenweise wirkt ihre Sprache so, als sei sie zu langsam für die sich überstürzenden Gedanken. Als Leserin bekomme ich die Möglichkeit, völlig in Sofias oder auch in Grischas Sicht der Dinge aufzugehen.
Bei mir hat das nicht geklappt. Ich fand das Szenario von Sofias Leben zu vollgestopft mit Problemen: Ihre Listenschreiberei wird schon sehr früh als eine Ausweichbewegung vor dem Leben deutlich. Dann die Situation mit ihrer Tochter Anna, die nur ein halbes Herz hat und zu Beginn der Erzählung kurz vor der dritten, schweren, entscheidenden Operation steht. Hinzu kommt dann noch das problematische Verhältnis zu ihrer Mutter. Alles ein bisschen viel.
Die Geschichte Grischas dagegen hat mich sehr fasziniert. Sie spielt in der Sowjetunion – von dort sind Anastasia und ihre Mutter nach Deutschland gekommen, wo Sofia aufwuchs – in den 50er und 60er Jahren. Mehr will ich da nicht verraten …
So habe ich das Buch letzten Endes dann doch mit Gewinn gelesen. Und wer weiß, vielleicht sind Sie ja gerade von Sofia und ihrer Überlebensstrategie begeistert 😉
Lena Gorelik: Die Listensammlerin, Rowohlt, Berlin, 2013, ISBN: 9783871346064
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