Wir Opfer von Kirstin Breitenfellner

Wir Opfer von Kirstin Breitenfellner

Welche Opfer hat Ihnen Ihre Tageszeitung denn heute zum Frühstück serviert? Verkehrsopfer? Opfer einer Naturkatastrophe? Auf den Philipinen? Vielleicht auch mal eine Nachhakgeschichte zu den Katastrophen auf Hawaii oder in L’Aquila? Oder ein Opfer der stärker um sich greifenden Kriminalität in den Städten oder auf  dem Land? Opfer in einem der gerade aktuellen Kriege?

Wahrscheinlich einige aus dieser Liste.

Kirstin Breitenfellner geht der Sache mit dem Opfer nach. „Warum der Sündenbock unsere Kultur bestimmt“ lautet der Untertitel ihres Buches.

  • Was ist eigentlich ein Opfer? Wo kommt es her?
  • Was ist ein Sündenbock?
  • Welche Unterschiede gibt es zwischen „ein Opfer werden“ und „ein Opfer bringen“?
  • Wie hat sich der gesellschaftliche Wert des Opfers gewandelt?
  • Und warum ist es so schwer, mit Opfern umzugehen?

Eine wichtige Quelle für ihre Auseinandersetzung ist der Religionsphilosoph René Girard, der die mimetische Theorie aufstellte, nach der Menschen nach dem streben, was ein anderer hat oder ist und die deshalb – auch – zu Gewalt greifen.

Kirstin Breitenfellner beginnt mit der religiösen Komponente des Opfers, stellt die Unterschiede zwischen der christlichen Opfertheologie zu den Auffassungen der umliegenden Völker dar, geht dann über zum Krieg. Sich fürs Vaterland aufzuopfern war in Europa bis zum Ersten Weltkrieg quasi Konsens. Dann folgt die Shoa – das Opferthema, das seit 1945 die Debatte beherrscht. Ohne Holocaust, so eine ihrer Schlussfolgerungen, wäre es nicht denkbar, dass heutzutage Opfer einen Vorteil aus ihrer Opferrolle ziehen können, z. B. dass Frauen nach einer Vergewaltigung diese anzeigen können und dafür nicht abgestraft werden. Opferschutz ist eine wichtige zivilsatorische Errungenschaft – ihre Auswüchse in Form von Schadensersatzforderungen (und -zahlungen!) bei selbstverschuldeten Schäden sind ein Zeichen dafür, dass „Opfer“ nicht gleich „Opfer“ ist. Gesellschaftlich ist es anerkannt, dass Opfern geholfen wird – welche Folgen und Ursachen das hat, wird dabei nicht bedacht. Wer Opfern hilft, fühlt sich überlegen und hält die als Opfer Definierten klein, sei es in der Dritten Welt mittels Entwicklungshilfe, seien es verschleppte Frauen wie Frau Kampusch. Die sich allerdings die Deutungshoheit über ihre Geschichte bewahrt hat und damit ziemlich aneckte.

Kirstin Breitenfellner ist Philosophin – sie hat neben Germanistik und Slawistik Philosophie studiert. Das macht sich auch in ihren Gedichten und Romanen bemerkbar. In ihrem neuen Sachbuch über die Opfer spürt man diese Philosphin ganz deutlich. Gleichzeitig ist aber auch die Journalistin dabei, die komplexe Sachverhalte gut verständlich darlegt, die ihre eigene Meinung pointiert und dosiert im Text unterbringt. Kirstin Breitenfellner hat ein lesenswertes Buch über unsere Gesellschaft geschrieben – übrigens mit Denkanstößen für den eigenen Umgang mit Opfern am Schluss. Ihre Auseinandersetzung mit den Medien und ihrem Anteil an der Verunklarung des Opferbegriffs nimmt breiten Raum ein und kann den Blick für die unterschiedliche Bewertung von Opfern und Tätern – eine unabdingbare Begleiterschienung des Opfers! – nur schärfen. Für mich ist klar, dass ich dieses Buch nicht das letzte Mal in der Hand gehabt haben werde.

Kirstin Breitenfellner: Wir Opfer. Warum der Sündenbock unsere Kultur bestimmt. Diederichs Verlag, München 2013, ISBN: 9783424350852

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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