Vor anderthalb Jahren habe ich das Buch „Der falsche Krieg“ von Niall Ferguson hier vorgestellt – und dabei das Spekualtive des Werks als unangemessen empfunden. Leider war das heute vorgestellte Buch von Richard J. Evans damals noch nicht erschienen. Er schreibt „Über kontrafaktisches Erzählen in der Geschichte“ – es ist quasi ein Buch gewordener Vortrag, wie er im Vorwort erläutert und bietet die Metaebene, um das Buch von Ferguson – und natürlich auch die Werke anderer, die sich mit kontrafaktischer Historiographie befassen – einordnen zu können.
Gespickt mit vielen Beispielen kontrafaktischen Erzählens in Historiographie und Belletristik zeigt Richrd J. Evans den Reiz und die Gefahren dieser Herangehensweise. Am Anfang aber erklärt er, was den Reiz kontrafaktischer Geschichtsschreibung zu bestimmten Zeiten ausmachte:
Ende des 20. Jahrhunderts musste neben den verschiedenen Ideologien auch die Idee des Fortschritts einen schweren Schlag einstecken, und die Zukunft erschien plötzlich bar aller Gewissheiten oder auch nur Wahrscheinlichkeiten. (S. 56)
Ferguson und andere Autoren, die kontrafaktische Geschichtsschreibung zu betreiben sich bemühten oder bemühen, betonen gern, dass sie gegen Determinismus seien und dem Zufall mehr Raum geben. Dabei beziehe sich das vor allem auf die Einflüsse, die nicht von Einzelnen gesteuert werden können – soziale Strömungen, Umwelt- oder Wirtschaftsbedingungn. Richard J. Evans weist nun nach, dass genau das nicht funktioniert – gerade auch bei den zitierten Autoren selber. Großenteil fußen kontrafaktische Schilderungen in Geschichtsschreibung wie Belletristik nach seiner Erfahrung auf Wunschdenken.
Und das Ergebnis? Im Grunde kommen auch diese Autoren zu dem Schluss, dass die Veränderung eines Zipfels der Geschichte keinen so großen Unterschied gemacht hätte, wenn die anderen Bedingungen gleich geblieben wären.
Richard J. Evans nimmt auch Beispiele aus dem ersten Band seines großen Werkes über den Nationalsozialismus, um zu zeigen, wo Historiker quasi systemimmanent kontrafaktische Gedanken wälzen – immer, wenn es darum geht, die Gründe eines Ereignisses zu klären, werden auch die Gründe behandelt, weshalb nicht ein anderer Weg beschritten wurde. In seinen Augen ist der Nutzen solchen Vorgehens vor allem zu zeigen, dass in bestimmten Situationen die Wahlfreiheit Einzelner eben nicht so groß war, wie man im Nachhinein glauben möchte.
Ich habe das Buch von Richard J. Evans wirklich mit Genuss gelesen – zum einen habe ich auf der Metaebene etwas über kontrafaktische Geschichtsschreibung gelernt, meine Einstellung gegenüber Fergusons Buch untermauert bekommen 🙂 und konnte zum anderen mit viel Spaß den teilweise sehr lockeren Ton – wie gesagt, es handelt sich ursprünglich um einen Vortrag – goutieren. Da kommt doch tatsächlich an einer Stelle das Wort „nichtsdestotrotz“ vor … Der Stil von Evans in der Übersetzung von Richard Barth ist sehr angenehm zu lesen.
Richard J. Evans: Veränderte Vergangenheiten. Über kontrafaktisches Erzählen in der Geschichte, übersetzt von Richard Barth, DVA, München, 2014, ISBN: 9783421046505
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