Ultrafantasia von Alfonsina Storni

Ultrafantasia von Alfonsina Storni

Ich gestehe, dass ich den Namen Alfonsina Storni nicht kannte, bis mir ein Newsletter die Nachricht über eine Gesamtausgabe ins Postfach spülte. Darunter: Gedichte!

Der Band Ultrafantasia bietet eine Auswahl an Gedichten, zweisprachig, übersetzt von Hildegard E. Keller, die auch Illustrationen und ein Nachwort beisteuert – eine Spezialistin. Sie hat mit dem Verlag Edition Maulhelden, den sie zusammen mit ihrem Mann betreibt, die Plattform gefunden, um die Autorin im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen.

Was für Liebesgedichte!

Alfonsina Storni war eine Pionierin – in ihrer Lyrik wie in ihrem Leben. Und ihre Liebesgedichte sind wirklich beeindruckend.

Dabei nutzt sie unterschiedlichste Formen – tradierte, aber eben auch freie, unkonventionelle. Hie rzum beispiel eine lyrische Prosaform:

Einmal habe ich dir in einem Brief erzählt, wie sich meine Hand von meinem Körper löste und durch die Nacht flog, um dich zu finden. Hast du den großen Falter nicht bemerkt, der dich um­schwirrte, daheim am Tisch, unter dem ruhigen Blick deiner Familie?

S. 137

Auf Spanisch:

Te hablé también alguna vez, en mis cartas, de mi mano desprendida de mi cuerpo y volando en la noche a través de la ciudad para hallarte. Si estabas cenando en tu casa, ¿no reparaste en la gran mariposa que, insistente, te circuía ante la mirada tran­quila de tus familiares?

S. 136

Aber auch konventionelle Formen bieten keine konventionellen Bilder bei ihr – als Beispiel ein Sonett:

Begegnung
Ich traf ihn in einer Ecke der Calle Florida,
bleicher denn je, so zerstreut wie eh.
Zwei lange Jahre hatte er mein Leben besetzt, ich schaute
ihn unbeeindruckt an, spielte mit meinen Handschuhen.

Und eine Frage von mir, leichtfertig und albern,
brachte einen stummen Vorwurf in seine hellen
Augen, denn ich hatte leichthin gesagt:
«Warum trägst du die Zähne jetzt gelb?»

Er ließ mich stehen. Eilig überquerte er die Straße,
auch sah ich, wie sein dunkler Ärmel die weiße Taille
einer Müßiggängerin streifte, die ihres Weges ging.

Eine Weile folgte ich seinem flüchtigen Hut,
schon bald war er nur noch ein Rostfleck, weit weg,
und die dichte Menge verschluckte ihn wieder. 
(S. 95 + 97)

Auf Spanisch:

Encuentro 
Lo encontré en una esquina de la calle Florida
Más pálido que nunca, distraído como antes,
Dos largos años hubo poseído mi vida …
Lo miré sin sorpresa, jugando con mis guantes.

Y una pregunta mía, estúpida, ligera,
De un reproche tranquilo llenó sus transparentes
Ojos, ya que le dije de liviana manera:
–¿Por qué tienes ahora amarillos los dientes?

Me abandonó. De prisa le vi cruzar la calle
Y con su manga oscura rozar el blanco talle
De alguna vagabunda que andaba por la vía.

Perseguí por un rato su sombrero que huía …
Después fue, ya lejana, una mancha de herrumbre.
Y lo engulló de nuevo la espesa muchedumbre. 
(S. 94 + 96)

Ein flüchtiger Hut (sombrero que huía) – richtig aktiv flieht er. Ein Mann als Rostfleck …

Schon ziemlich genial, oder?

Andere Themen

Das erste Gedicht von Alfonsina Storni in dieser Sammlung faltet Worte aus, die ihre Freundin gesprochen hat – Worte der Einsamkeit: La loba – Die Wölfin, die allein umherstreift, die Angst der Herde goutiert und – sehr ungewöhnlich für eine Frau zu dieser Zeit – ihren Lebensunterhalt selbst verdient.

Überhaupt sind Frauen und ihre Lebensumstände ein Thema!

Aber auch soziale Fragen spricht sie an.

Zum Leben von Alfonsina Storni

Sie war zu ihrer Zeit als Dichterin tatsächlich berühmt und bekannt. Ihre ersten Gedichte publizierte sie in Zeitungen. Sie arbeitete als Schauspielerin, Lehrerin und Schulleiterin. Sie musste oft zusehen, wo das Geld herkam. Aber bekannt war sie!

Sie war Argentinierin. Sie gewann Preise und Auszeichnungen, war mit Dichterinnen und Dichtern in Südamerika befreundet und feierte auch in Spanien Erfolge.

Foto von eienem bil, Holzrahmen, größere Fläche in Blau, darin erhabene Figuren/Linien/Schlängel auf braunem Untergrund - die Stimme der Muscheln ruft ins Meer - Alfonsina Storni ist ins Wasser gegangen, um zus terben.
Dieses Bild ist Alfonsina Storni gewidmet – es stammt von Elisa Marianini, die es La voce della conchiglia, in omaggio ad Alfonsina Storni nennt.

Dann erkrankte sie, wurde geheilt, erkrankte erneut und ging in den Freitod – angekündigt, durch ihr letztes Gedicht, das sie vorher noch zur Post brachte …

Es lohnt sich, die Gedichte der Alfonsina Storni zu lesen – auch ihre Prosatexte sind in der Edition Maulhelden erschienen und was ich über sie gelesen habe, klingt reizvoll.

Ach ja – die Lebensdaten!

Was hätten Sie gedacht, wann eine Frau solche Texte schreibt?

Geboren wurde sie 1892. Ihr Leben beendete sie im Alter von 46 Jahren, 1938.

Alfonsina Storni: Ultrafantasia, Lieblingsgedichte, ausgewählt, übersetzt und illustriert von hildegard E. Keller, Edition Maulhelden, Zürich, 2022, ISBN: 9783907248102

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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