Thomas Mann von Tilmann Lahme

Thomas Mann von Tilmann Lahme

Noch eine umfangreiche Biographie zu Thomas Mann, diesmal von Tilmann Lahme. Was kann er schon Neues erzählen? Das Leben des großen Mannes *scnr* ist doch schon x-mal durchleuchtet worden. Doch er hat was zu erzählen. Er ist auf die Familie Mann „spezialisiert“, kann man sagen, nachdem er 2007 mit einer Dissertation über Golo Mann promoviert wurde.

Was erzählt Tilmann Lahme?

Das Leben des Thomas Mann – so weit, so klar. Er legt seinen Schwerpunkt aber eindeutig auf die Homosexualität des Autors – ganz eindeutig. Und dazu hat er anderes zu berichten als andere Autoren, die sich Thomas Manns annahmen. Obwohl, wie Tilmann Lahme moniert, in den Arbeiten zu Thomas Mann immer nur von „homerotischen Neigungen“ die Rede gewesen sei und maximal Bisexualität konstatiert wurde, habe ich den Autor von Buddenbrooks und Zauberberg durchaus als schwul gelesen. Tilmann Lahme jedoch bemäkelt die Umschreibungen anderer Biograph*innen Manns und setzt sich in seiner Selbstdarstellung durch diesen Punkt deutlich von ihnen ab.

Das für mich Neue in einer Biographie zu Thomas Mann sind zwei Aspekte:

  • Tilmann Lahme weist nach, mit welchen Büchern sich Thomas Mann und sein Freund Otto Grautoff zu den sie bedrängenden Gefühlen der Homosexualität kundig gemacht haben.
  • Überhaupt lässt er Otto Grautoff mehr Raum in der gesamten Biographie – bis hin zu seinem Tod; bei anderen bleibt es bei dem „Jugendfreund“, der später keine Rolle mehr spielten.

Was lasen Thomas Mann und Otto Grautoff?

Die beiden Schüler waren 16 Jahre alt und schwer verwirrt. Ein Geständnis gegenüber einem Mitschüler brachte Thomas Mann einiges an Demütigung ein – Ablehnung und Spott. Auf der Suche nach Aufklärung kam er mit wohl 18 Jahren – 1893 – auf die „Psychopathia sexualis“ von Richard von Krafft-Ebing. Auch sein Bruder Heinrich hatte hier Rat gesucht, da er sein großes sexuelles Begehren als abnormal einschätzte. Krafft-Ebing nennt homosexuelle Menschen „Stiefkinder des Lebens“ und empfiehlt verschiedene Methoden, sich von dieser Abnormität zu entwöhnen. Er nennt zwei verschiedene Formen der „conträren Sexualempfindung“ und Thomas Mann muss feststellen, dass er der angeborenen Form angehört und darin zu einer Untergruppe, bei der „Heilung“ eher nicht zu erwarten ist. Deshalb muss der Sexualtrieb gezähmt werden. Denn Ausleben ist undenkbar.

Zur selben Zeit liest Thomas Mann auch „Die konträre Sexualempfiundung“ von Albert Moll, der für hypnotische Behandlung plädiert, quasi die damals fortschrittlichste Form eine Konversionstherapie. Die Inhalte beider Bücher entsprechen dem wissenschaftlichen Stand und der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber Homosexualität in der Zeit. Der junge Mann lernt also, dass das, was er empfindet, nicht in Ordnung ist. Das prägt ihn und auch Otto Grautoff, der ebenfalls homosexuell ist. In ihren Briefen tauschen beide sich aus – allerdings vernichtet Thomas Mann die Briefe des Freundes und bittet ihn, das auch zu tun. Doch Otto Grautoff kommt diesem Wunsch nur bedingt nach – er behält die Briefe, schneidet aber Passagen heraus. Zwei der Briefe von 1896 hängt Tilmann Lahme seiner Biographie an – hier „rät“ Thomas Mann seinem Freund in Zusammenhang mit der Konversionstherapie, der sich Otto Grautoff unterzieht. Er bringe der „Krankheit“ des Freundes Interesse entgegen. Im folgenden Satz heißt es: „Ich selbst habe in dieser verfänglichen Richtung viel, sehr viel erlebt …“ – so deutlich wurde er sonst nie. Von sich selbst spricht Thomas Mann als einem „gänzlich verrotteten Wesen“.

Das ist also der Punkt, auf dem die Biographie Tilmann Lahmes zuläuft: Thomas Mann war schwul – und nichts anderes. Aus seinem Leiden an dieser Disposition, die er als Krankheit und „Verrottung“ empfand, lässt sich sein Leben und Werk erklären.

Nicht nur daraus natürlich, aber zu einem großen Teil.

Das Exlibris von Otto Grautoff: In einem runden Medallion sitzen zwei nackte Figuren mit langem Haar, eine liest, die andere guckt verträumt. Es könnte Junge und Mädchen, es können aber auch zwei Jungen oder zwei Mädchen sein.
Die Figuren sind geschlechtlich nicht eindeutig

Otto Grautoff

In vielen Biographien wird der Mitschüler als genau das behandelt – so kannte ich ihn bisher auch: Schulfreund, mit dem noch eine Zeitlang brieflicher Kontakt bestand und dann Ende. Tilmann Lahme geht dem Leben des Otto Grautoff nach – der keineswegs nur eine Fußnote im Leben Thomas Manns war, sondern selbst einiges auf die Beine gestellt hat. Er promovierte über Nicolas Poussin und engagierte sich für deutsch-französische Kulturbeziehungen. Die deutsch-französische Gesellschaft Berlin sieht sich in der Nachfolge dieses Engagements. Auch Thomas Mann war Mitglied und in diesem Rahmen zumindest einmal in Paris. Deutlich nach der Zeit, nach der in anderen Biographien Otto Grautoff keine Rolle mehr spielt. Die Veröffentlichungsliste Grautoffs ist durchaus sehenswert. Außerdem gibt es, so Tilmann Lahme, der sich damit befasst hat, in der Bibliothek der Sorbonne eine unveröffentlichte Autobiographie Grautoffs.

Auch wenn Grautoff aufs lange Leben Thomas Manns betrachtet wirklich eher eine frühe Nebenfigur ist, ist sie doch prägend und kann für sich allein sehr gut stehen – ein anderes Bild als man es sonst von ihm gezeichnet bekam. Ich fand den Aspekt erhellend.

Fazit

Tilmann Lahme eine gut lesbare, in machen Details überraschende Biographie zu den Bergen an Publikationen über Thomas Mann hinzugefügt. Sie ist gut lesbar, betont andere Aspekte als andere und ergänzt das Bild des – wie ich finde durchaus unsympathischen* – Thomas Mann. Ich kann das Buch empfehlen.

Tilmann Lahme. Thomas Mann. Ein Leben, dtv, München, 2025, ISBN: 9783423284455

*Die Bücher sind trotzdem gut.

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

No Comments

Post a Comment