Alltag im Jahr 1914 in Wien – von Edgard Haider akribisch zusammengetragen aus Zeitungsberichten und Anzeigen. Das Buch ist chronologisch aufgebaut und beginnt mit dem Jahreswechsel zu 1914. Einzelne Ereignisse im Jahresverlauf sind dann Anlass zu ausführlichen Schilderungen – seien das nun Faschingskostüme oder die antisemitische Grundstimmung der Christsozialen; ehrlich gesagt, blieb mir da der Mund offen stehen – was in dieser Partei da so als Grundlagen verhandelt wurde, klingt dem sehr ähnlich, was knapp zwei Jahrzehnte später weiter nördlich Reichspolitik wurde.
Ansonsten ist es für mich als Nicht-Österreicherein einfach interessant, mal mitzubekommen, wie es denn im kaiserlichen Wien so zuging – z. B. die Sache mit den Hofkutschen in einem bestimmten Grün und der Speichenlackieung, die anzeigte, wie nah der Passagier der Kutsche mit dem Kaiser verwandt war.
Neben solchen Dönekes schildert Edgard Haider aber auch die düsteren Seiten Wiens – die hohe Arbeitslosigkeit, die Wohnsituation, die Diskussion um die Stellung der Frau (mit Besuch der Suffragette Sylvia Pankhurst.
Edgard Haider verfolgt das Geschehen bis hin zum Kriegsausbruch. Breiten Raum nimmt für den Tag des Attentats das Geschehen in Wien ein – Franz Joseph reist nach längerer Krankheit nach Bad Ischl. Die Nachricht vom Tod des Thronfolgers wispert erst als Gerücht durch die fröhliche Stadt, bis die Extrablätter die Nachricht verbreiten. Das steife Hofzeremoniell, nach dem die Ehefrau Franz Ferdinands auch im Tod als nicht ebenbürtig behandelt wurde – ihr Sarg wird bei der Aufbahrung niedriger gestellt, er erhält nur die Abzeichen für eine Hofdame – findet den Höhepunkt in dem zeremoniellen Empfang der drei Waisen im Alter von sieben bis elf Jahren beim Großonkel: Der dauert zwar zehn Minuten länger als vorgesehen, aber er bleibt ein Pflichttermin für den greisen Mann, von dem der Autor sagt, er sei über den Tod des Nachfolgers froh gewesen.
Edgard Haider schildert nicht nur selber – und lässt in vielen Fällen seine kritische Haltung deutlich spüren -, er lässt auch schildern, indem er lange Passagen aus den verschiedenen Tageszeitungen zitiert. Sein eigener Stil passt sich diesem einhundert Jahre alten Duktus manchmal so geschmeidig an, dass ich sehr auf die An- und Abführungszeichen achten musste, um zu erkennen, wer gerade „spricht“.
Für Nicht-Österreicherinnen wie mich, ist das kleine Glossar am Ende hilfreich – hier werden nicht nur einige altmodische Fremdwörter erläutert, sondern auch Austriazismen, die zwar manchmal schon im Text in Klammern erläutert werden – aber eben nicht alle.
Insgesamt ist es ein interessantes Buch mit Hintergrundiformationen und Stimmungsbildern aus der Zeit unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs – beginnend mit dem Optimismus, dass 1914 ja besser werden müsse als 1913.
Edgard Haider: Wien 1914. Alltag am Rande des Abgrunds, Böhlau Verlag, Wien, 2013, ISBN: 9783205794653
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