„Geschichte des ersten Weltkriegs“ lautet der Untertitel des Buchs von Jörn Leonhard und auf seinen rund 1.000 Seiten löst er das Versprechen auf spannende Weise ein. Der Schwerpunkt seiner Darstellung liegt auf psychologischen Faktoren – sowohl bei einzelnen Personen als auch bei Staaten. Die Unterstellung von Absichten – genährt aus eigenen Ängsten – sieht Jörn Leonhard als wichtiges Ingredienz der Abläufe in der Juli-Krise und auch bei der Planung militärischer Schritte. Eine alltägliche Erfahrung, die der Psychologe Paul Watzlawick in seiner Geschichte vom Hammer völlig nachvollziehbar geschildert hat – die aber in politischen Dimensionen in die Katastrophe führen kann und damals auch führte.
Diese Unterstellungen der politisch Verantwortlichen wurden von anderen Faktoren begleitet, die in der Juli-Krise zu dem scheinbar automatischen Ablauf führten. Jörn Leonhard zeigt auf, an welchen Punkten Deeskalation – wie es sie in den Jahren zuvor gab – möglich gewesen wäre und warum diese Schritte versäumt wurden. Die völlige Überforderung einzelner Menschen und vor allem Gruppen mit der Komplexität der Situation leuchtete mir da wirklich ein.
Wer nun schuld am Krieg hatte, ist auch in diesem Buch Thema. Jörn Leonhard sieht im Blankoscheck Deutschlands gegenüber Österreich-Ungarn einen sehr schwerwiegenden Grund für die Eskalation, da damit nicht nur Unterstütung für einen Verteidigungs-, sondern auch für einen Angriffskrieg gegeben war. Doch auch andere Länder trugen dazu bei, dass die Chancen der Deeskalation ungenutzt verstrichen: Frankreich stärkte Russland gegenübber Serbien den Rücken. England sendete widersprüchliche Signale aus – dort war der Konflikt mit Irland lange Zeit viel stärker im Fokus der Politiker, der Presse und der Öffentlichkeit als der Mord am k. u k. Thronfolger. Die Frist zwischen dem Attentat und dem Ultimatum war so lang, dass der Gedanke, es bleibe ein regionaler Konflikt, nicht abwegig erschien.
Auch bei der Schilderung des Kriegsablaufs kommen psychologische Überlegungen ins Spiel: War in früheren Kriegen ein klares Kriegszeil Anlass, so mussten m August 1914 und in den Folgejahren solche Ziele z. T. erst entwickelt werden. Der Gegner wurde im Gegensatz zu früheren Kriegen – und unter anderem wegen der mangelnden oder nicht überzeugenden Kriegsziele – kriminalisiert; die Propaganda dichtete auf allen Seiten den jeweils anderen Greueltaten an. So war jede Grausamkeit der eigenen Seite quasi gerechtfertigt. Andererseits war das Töten und das Getötetwerden durch die Distanzwaffen anonymisiert – so sank die Hemmschwelle zum Einsatz von Schrapnellgeschossen – also Streugeschossen, die schlimme Verwundungen und Verstümmelungen hervorriefen.
Bei manchen Ereignissen fragt man sich ja im Rückblick, wie „man“ damals denn so haben denken und handeln können. Mit seinem Ansatz macht Jörn Leonhard nicht nur das Denken von 1914-1918 nachvollziehbar, sondern auch das Empfinden.
Ein großartiges Buch.
Ach ja, „Büchse der Pandora“: Das ist nicht nur ein Bild für die teils unerwarteten Folgen der technischen Entwicklung im ersten modernen Krieg in Europa – Jörn Leonhard beginnt das Buch mit der Szene im Haus Mann, als die Kinder im Sommer 1914 ein Stück dieses Titels proben und die Generalprobe am 1.8.1914 wegen des Kriegsausbruchs abgesagt wird.
Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des ersten Weltkriegs, C. H. Beck Verlag, München, 2014, ISBN: 9783406661914
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