Erst jetzt bin ich dazu gekommen, die zweite eigenständige Fortsetzung der Peter-und Harriet-Wimsey-Geschichten von Jill Paton Walsh zu lesen. Das Buch ist bereits 2013 erschienen und genau wie das über die Attenbury-Smaragde nicht auf Deutsch. Schade.
Jill Paton Walsh lässt Harriet und Peter nach Oxford zurückkehren. Peter hat, ohne vorher davon zu wissen, mit dem Titel des Herzogs von seinem Bruder Gerald auch das Ehrenamt des „Visitors“ am St. Severin’s College geerbt. Davon erfährt er in einem Brief, in dem er gebeten wird, das College aufzusuchen. Die Bitte wird dringlicher noch von zwei Personen vorgetragen, die ihn persönlich aufsuchen. Unabhängig voneinander tauchen zwei Mitglieder des Kollegiums auf, um ihre Sicht der Dinge darzulegen. Das College steckt tief in den roten Zahlen. Nun wurde ihm von anonymer Seite ein Stück Land am Rande der Stadt angeboten. Es zu erwerben, ist kein Geld da. Es zu haben, hieße für die Zukunft große Chancen zu erlangen, denn Oxford expandiert. Damit wäre die finazielle Zukunft des Colleges gesichert. Nun steht die Überlegung im Raum, ein mittelalterliches Manuskript zu verkaufen. Es handelt sich um eine Ausgabe eines Textes von Boethius – De consolatione philosophiae – mit einem interlinear gesetzten Glossar in Anglo-Sächsisch.
König Alfred war der Herrscher, der im 9. Jahrhundert diesen Text seinen Untertanen empfahl. Er hat selbst an der Übersetzung mitgewirkt. Es gab zu seiner Zeit eine große Anzahl von Kopien dieses Textes. Das Exemplar des Colleges ist beschädigt, es gibt aber Theorien darüber, dass es trotzdem von Wert ein könnte – es gehört aufgrund seines Alters in die Regierungszeit Alfreds und es wird spekuliert, dass er es selbst benutzt haben könnte.
Noch während der erste von Peters Besuchern in Denver ist, gibt es die Meldung eines Todesfalls aus dem College. Für den Dozenten ist damit Peters Kommen obsolet. Der zweite Dozent, der später auf den Plan tritt, ist über den Tod des Kollegen in Oxford deutlich erschütterter als sein bereits abgereister Kollege. Im Kollegium des Colleges gibt es zwei streng geschiedene Fraktionen für und gegen den Verkauf des Manuskripts. Zwischen ihnen steht es unentschieden. Der Rektor, dessen Stimme entscheidend sein könnte, ist seit Monaten verschwunden. Das ist so irregulär, dass Peter und Harriet beschließen, dem Ruf zu folgen. Peter macht sich erst einmal alleine auf den Weg, Harriet folgt später nach.
Neben den Todesfällen – es bleibt nicht bei dem einen – kommen noch zwei weitere Anschläge zur Sprache, die nicht „erfolgreich“ verliefen. Allen Anschlägen ist eines gemeinsam: Sie entsprechen in ihren Methoden alten Fällen von Peter, die Harriet in ihren Büchern verwendet hat. So müssen sich die beiden auch wieder mit hrer gemeinsamen Vergangenheit auseinandersetzen.
Jill Paton Walsh schafft auf diese Weise eine Ebene, in der ich als Leserin weiß, dass ich die Fälle durch die Romane von Dorothy L. Sayers kenne – die Figuren im Buch aber kennen sie durch Miterlebthaben oder durch die Romane von Harriet. Ein nettes Spiel mit Fiktionsebenen.
Jill Paton Walsh entwickelt die Geschichte der Familie von Peter weiter: Peter und Harriet sind seit einiger Zeit Duke und Duchess. Ihre Söhne sind Teenager. Auch der Sohn von Mervyn und Hope Bunter muss seine Zukunft ins Auge fassen. Die unterschiedlichen Begabungen der jungen Leute führen zu erstaunlichen Entwicklungen. Peters Mutter ist alt geworden, in ihrer Rede so lebhaft und konfus wie immer, aber im Ablauf ihrer Tage sehr viel ruhiger. Das Gesamtszenario gibt, gerade auch nach einem Unfall der älteren Dowager Duchess (also Peters Mutter – ich mag aber das Wort so gern; Helen ist natürlich auch Dowager Duchess … 😉 ) Gelegenheit, die eigene (Familien-) Situation zu reflektieren. Jill Paton Walsh folgt dabei der Tendenz von Dorothy L. Sayers, die besonders Peter im Laufe der Zeit „menschlicher“ und nahbarer gemacht hatte. Insgesamt empfinde ich die Weiterentwicklung der bekannten Charaktere – von Peter und Harriet über Bunter und die Dowager Duchess bis hin zu Freddy und Rachel Arbuthnot – als sehr stimmig..
Ja, das Buch hat mir sehr gut gefallen. Die Handlung ist komplex und herausfordernd. Die Entwicklung der Familie ist nachvollziehbar und den geänderten Umständen – wir schreiben die Jahre 1952 und 53 und in England „herrscht“ wieder eine junge Königin – angemessen. Besonders hübsch finde ich im letzten Kapitel die Impressionen über das studentische Leben Oxfords, die Jill Paton Walsh liebevoll ausbreitet, bevor Peter als Visitor des Colleges seine letzte wichtige Amtshandlung ausübt. Ich kann das Buch allen Sayers-Fans empfehlen.
Über die Sprache kann ich nicht wirklich urteilen, da ich keine Fachfrau für Englisch bin – ich fand es aber trotz meiner nicht besonders tollen Sprachkenntnisse angenehm zu lesen und teilweise sogar witzig. Wenn auch vielleicht an anderen Stellen, als Jill Paton Walsh sich das gewünscht hätte. So fallen mir als Nicht-Native-Speaker ein paar Wörter auf, z. B. „browse“ im Sinner von „stöbern“ – die Seelenverwandtschaft von Peter und Harriet drückt sich dadurch aus, dass ihr Verhalten in der Buchhandlung Blackwell’s wie folgt geschildert wird:
Harriet spent the first part of her morning browsing happily in Blackwell’s (S. 89)
Peter strolled into Blackwell’s and browsed happily for a while. (S. 138)
Kann natürlich auch sprachliche Einfallslosigkeit sein – glaub ich aber nicht 😉
Jill Paton Wals: The Late Scholar. Peter Wimsey investigates, based on the characters of Dorothy L. Sayers, Hodder & Stroughton, London, 2013, ISBN: 9781444760873
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