Schnee fällt auf Chinas Erde von Ai Qing

Schnee fällt auf Chinas Erde von Ai Qing

Ai Qing gilt als bekanntester moderner Lyriker in China. Trotz vieler Brüche in seinem Leben mit dem Staat. Außerdem war er Maler – einer, der in Paris studierte, 1929-1932. Und er war der Vater von Ai Weiwei – ein in unseren Breiten eher bekannter Name 😉.

Bevor es um die Gedichte von Ai Qing geht, muss ich ein paar Sachen vorausschicken:

  • Zu seinem Leben
  • Zur Lyrik in China

Wenn diese Vorbemerkungen für Sie nicht spannend sind, können Sie auch direkt zur Besprechung springen 😊

Wer war Ai Qing?

Ai Qing war ein Sohn einer reichen Familie und lebte die ersten fünf Jahre in der Familie seiner Amme – aufgrund eines schlechten Orakels zu seiner Geburt. In seinem ersten Gedicht über seine Amme wird deutlich, dass er sich den Söhnen dieser armen Frau näher fühlte als seiner Herkunftsfamilie. Er kannte das harte Leben der armen Bevölkerung – er hat es erfahren. Als 18-Jähriger ging er zu Ausbildung als Maler an die Kunsthochschule in Hangzhou und ein Jahr später nach Paris. Dort studierte er nicht nur Malerei, sondern befasste sich mit Literatur und Philosophie. Als er 1932 nach China zurückkehrte, schloss er sich einer linken Künstler-Gruppe an und landete für Jahre im Gefängnis. Dort übersetzte er Gedichte von Emile Verhaeren, dessen Gedichte er in Paris kennengelernt hatte. Dort entstand auch das Gedicht über seine Amme „Dayanhe, meine Amme“. Im Band „Schnee fällt auf Chinas Erde“ ist es das dritte Gedicht.

Ich habe jetzt nur zu seinen Anfängen so ausführlich geschrieben, um klar zu machen, wo dieser Mann herkam und was ihn geprägt hat. Er hat im Laufe seines langen Lebens einiges an, sagen wir „Problemen“ mit den jeweiligen Machthabern. Mit seiner Familie wurde er in den Norden Chinas verbannt, weil er auch Mao Zedong nicht passte und das alles findet Niederschlag in seinen Gedichten. Nicht umsonst steht bei den meisten dabei, wann er sie geschrieben hat.

Es gab immer wieder Phasen, in denen er gar nicht schreiben durfte. Gar nicht!

Chinesische Lyrik

Das kann jetzt nur eine ganz kurze Einführung sein – schließlich soll es um die Gedichte von Ai Qing gehen. Meine Quelle ist ein Aufsatz von Jürgen Weber, den ich mir durchgelesen habe und ein Gespräch mit Lothar Kirsch, der einzigen Person in meinem Umfeld, die Chinesisch beherrscht und sehr viel über Lyrik weiß. Aaaalso:

Es gibt eine riesige Zahl an Gedichten in China, denn für lange Zeit war Gedichte schreiben eine gesellschaftlich anerkannte Freizeitbeschäftigung. Etwas, was man im Freundeskreis gemeinsam betrieb. Die Gedichte mussten dabei strengen Regeln folgen – Jürgen Weber führt das in seinem Beitrag an einem Beispiel sehr plastisch aus. Gedichte schreiben zu können, gehörte zu den Prüfungen, um Beamter werden zu können – seit der Tang-Zeit ist das so belegt. Dabei ging es nach Jürgen Weber nicht um poetischen Ausdruck, sondern um das Sprachvermögen, nach festgelegten Regeln einen Text verfassen zu können. Ungefähr so, wie heute das Rumspielen mit einem Elevator-Pitch.

Es gibt also eine feste sprachliche Form. Aber auch inhaltlich sind Formeln gang und gäbe. Die Schilderung eines Monds, der hinter Kiefern aufgeht oder von Bergspitzen, die in weiße Wolken gehüllt sind, sind die üblichen Bilder – keine Erlebnislyrik in unserem Sinne.

In diese Regeln kommt nun Bewegung, als sich die Literatur nach Westen öffnet – und Ai Qing hat da mit seinem Jahren in Paris den direkten Kontakt. Seine Übersetzung der Gedichte von Verhaeren macht zum einen diesen Dichter in China bekannt(er), hilft Ai Qing selber aber auch, die moderne Form der Lyrik aus dem Westen ins Chinesische zu transformieren. Er spielt also mit den überlieferten Formen, bricht sie und schafft so moderne chinesische Lyrik. Im Wikipedia-Artikel über ihn steht die Entwicklung dieser „Neuen Lyrik“ (Xin Shi) schon im Teaser. Im Unterschied zur klassischen Lyrik in China behandelt Ai Qing z. B. auch die Lebensbedingungen der Landbevölkerung – das war in der Kunst der Eliten kein Thema gewesen.

Die Gedichte von Ai Qing

Ich weiß ja nicht, wie Sie an Lyrik-Bände herangehen – ich blätter erst mal wild drauf los und gucke, wo mein Auge so hängenbleibt. Das ist bei E-Books naturgemäß etwas schwieriger, geht aber. Besonders fasziniert hat mich neben dem Gedicht über die Amme das Gedicht „Leben“ – Ai Qing schildert darin, wie sein Arm aussieht, was das bedeutet und, ja, wie er als Dichter arbeitet:

Leben

Manchmal
lege ich einen nackten Arm
flach an die Mauer.
Der kalkweiße Putz
hebt den gelbbraunen Glanz
gesunden Fleisches hervor.
Blaue Adern pulsieren in meinem Arm,
wie grüne Flüsse die Erde durchziehen.
Meine fünf Finger
sind fünf rote Äste;
in ihnen zirkuliert
das Blut des Mannes,
der die Erde pflügt.

Ich weiß,
das ist das Leben:
Es ist beladen mit
den Leiden der Liebe, dem Lebenskummer,
es ringt nach Atem unter dem bitteren Joch des Jahrhunderts,
lass es jubeln und klagen, lachen und weinen,
es wird sich selbst antreiben,
bis es schließlich ermattet in sich zusammenfällt!

So soll es sein,
so wird es sein,
in diesen Tagen der Erwartung.
Ich benutze das Grauweiß
meines Unglücks, um das lebhafte Rot
des frischen, neuen Lebens hervorzuheben. 
April 1937,  S.28
Text: Ai Qing, Schnee fällt auf Chinas Erde, Gedichte. Mit einem Vorwort von Ai Weiwei.
Weißer Hintergrund graue Blätter, drer farbige Blumen, stilisiert, eine rot, eine blau, eine grün
Cover des Lyrik-Bandes von Ai Qing, Copyright Penguin Verlag

Erst Ende der 70er Jahre wird Ai Qing rehabilitiert. Er kann reisen – kommt nach Deutschland und schreibt auch über die Berliner Mauer. Ein hoffnungsfrohes Gedicht – auch eine viel dickere Mauer als die in Berlin könnte weder Regen noch Gedanken aufhalten. Ai Qing starb 1996 – er hat den Fall der Mauer in Berlin noch miterlebt.

Die Mauer 

Eine Mauer wie ein Messer
schneidet die Stadt in zwei Teile:
die eine Hälfte der Osten
die andere Hälfte der Westen.

Wie hoch ist die Mauer?
Wie dick?
Wie lang?
Sie mag hoch sein und dick und lang,
doch mit der Chinesischen Mauer kann sie es nicht aufnehmen.
Ganz gleich wie hoch und dick und lang,
sie ist eine Spur der Geschichte,
eine Wunde der Nation.

Niemand mag eine solche Mauer.
Drei Meter hoch,
fünfzig Zentimeter dick,
fünfundvierzig Kilometer lang, was bedeutet das schon?

Selbst wenn sie tausend Mal höher
und tausend Mal länger wäre,
wie könnte sie Wolken, Wind, Regen und Sonne
aufhalten?
Wie könnte sie Vogelflug und Nachtigallengesang
aufhalten?
Wie könnte sie das fließende Wasser und die Luft
aufhalten?

Wie könnte sie
die Gedanken von Hundertausenden aufhalten,
freier als der Wind,
ihr Wille fester als die Erde,
ihr Hoffen beständiger als die Zeit?

Bonn, 22. Mai 1979, S. 81

Diese Gedichte haben mich beschäftigt – was Ai Qing über sein Land und sein Leben darin zeigt, ist in vielem so fremd und dann wieder nicht. Mit meinem rudimentären Wissen über chinesische Lyrik erhasche ich in manchen Texten einen Blick auf seine Innovationskraft. Ich finde diese Sammlung also sehr lesenswert.

Ai Weiwei hat ein Vorwort verfasst, in dem er seinem Vater ein Denkmal setzt – durchaus persönlich. Am Ende des Buches gibt es „Anmerkungen zu den Gedichten“ – hier erläutert Susanne Hornfeck die sonst unverständlichen Anspielungen und biographischen Zusammenhänge. Im Nachwort schildert sie Ai Qings Biografie und hält uns den Spiegel vor:

Unsere Rezeption chinesischer Lyrik ist geprägt von der Chinoiserie, dem Rätselhaft-Exotischen, einem Klischee, dem nicht selten durch die Vagheit der Übersetzungen Vorschub geleistet wird. Hier hingegen haben wir es mit einem Dichter zu tun, der westliche Vorbilder sinisiert und damit für eine neue, moderne chinesische Lyrik nutzbar gemacht hat. Einfachheit, Schlichtheit, Konzentration und Transparenz waren für ihn Programm (vgl. dazu die Zitate aus seinem Essay »Über Poesie« Shi lun, 1942). Das klingt in unseren Ohren oft zu vertraut, zu »unchinesisch«

S. 101

Ai Qing: Schnee fällt auf Chinas Erde, Gedichte, übersetzt von Susanne Hornfeck, mit einem Vorwort von Ai Weiwei, Penguin Verlag, München, 2021, ISBN: 9783641288051

Wenn Sie des Chinesischen mächtig sein sollten, können Sie hier die Gedichte im Original lesen. Dank an Lothar Kirsch für den Tipp!

Die Stadtbibliothek Köln hält die Sammlung als Buch und als E-Book vor.

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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