Politische Poesie – was heißt das fürs 20. Jahrhundert? Man könnte hingehen und das theoretisch klären – Joachim Sartorius geht einen anderen Weg: Er zeigt es.
Vom Genozid an den Armeniern bis zu den Balkankriegen unserer Tage (90er Jahre) kommen die Konflikte der Welt im Gedicht vor: Apartheid, kubanische Revolution, Koreakrieg und die damit verbundenen Konflikte gehören zu denen, die im Bewusstsein vieler (mich eingeschlossen) nicht automatisch mit politischer Lyrik verbunden werden – hier kommen Dichterinnen zu Wort, die sich dazu geäußert haben. Große Bandbreite bieten die bekannten Themen: Erster und zweiter Weltkrieg, Nazizeit, russische Revolution und die Zeit nach 1945. Aber auch politische Utopie – zumindest in einer Ausformung – findet Raum: „Die grüne Utopie“ ist das 19. Kapitel überschrieben. Einen Anhang der besonderen Art gibt es auch – Gedichte von Diktatoren …
Jedes der 19 Kapitel wird von Joachim Sartorius eingeführt – und fast jede Dichterin, jeder Dichter wird mit ein paar erläuternden Zeilen vorgestellt. Alle Gedichte liegen in deutscher Sprache vor, die Originaltexte sind nicht dabei (bei dem Band über Shakespeare wurde das Problem der Zweisprachigket gut gelöst – aber das ist nicht immer so möglich, z. B. wenn die Seitenzahl vorgegeben ist 😉 ); in seiner Danksagung erläutert Joachim Sartorius, dass manche der literarischen Übersetzerinnen (Nachdichterinnen trifft es wohl besser) oft in engem zeitlichen Rahmen ihre Arbeit taten, denn die Grundlage des Buches ist eine Reihe aus der Zeitschrift Cicero, in der er von 2010 bis 2012 regelmäßig in der Rubrik „Poesie & Politik“ Gedichte veröffentlichte.
Die meisten der Gedichte in diesem Band sind Texte von Opfern – sie schildern ihr Leiden an den Umständen ihrer Zeit, am Krieg, am Völkermord, an Unterdrückung:
- Komidas Vardapet aus Armenien
- Nancy Morejón aus Kuba
- Pham Tién Duât aus Vietnam
- Jannis Ritsos aus Griechenland
- Anna Achmatowa aus der Ukraine
- Ilse Blumenthal-Weiss aus Berlin
und natürlich Berthold Brecht, Kurt Tucholsky, Paul Celan, Nelly Sachs, Irmgard Keun, Sarah Kirsch, Pablo Neruda, August Stramm, Heiner Müller und andere bekannte Namen. Es gibt aber wie gesagt auch Texte von Diktatoren oder auch solche, die sich in den Dienst einer poltischen Sache stellen.
Gedichte kann ich nicht so einfach hintereinander weglesen wie einen Roman oder auch ein Sachbuch – die Sammlung von Joachim Sartorius lädt zum Blättern ein – Gedichte zu einem bestimmten Thema zu lesen oder die einer bestimmten Autorin zu verschiedenen Themen zu suchen, aufs Geradewohl das Buch aufzuschlagen und zu schauen, bei welcher Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts ich gerade gelandet bin. Ein nachhaltiges Buch also, das Joachiim Sartorius hier zusammengestellt hat.
Joachim Sartorius (Hrsg.): Niemals eine Atempause. Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2014, ISBN: 97834622046915
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