Meine erste Lüge von Marina Mander

Meine erste Lüge von Marina Mander

Was macht ein Zehnjähriger, dessen Mutter eines Tages nicht mehr aufsteht? Gar nicht mehr aufsteht? Nie mehr aufstehen wird? Er versucht, den Schein aufrecht zu erhalten. Normalität ist das Gebot – denn Luca will nie, nie, nie ins Waisenhaus. Dort ist es schrecklich – das weiß er aus Filmen.

Zusammen mit Kater Blu richtet er sich ein – überlegt, wie viel Waschen notwendig ist, um den Schein zu wahren, wimmelt Mutters Freundin am Telefon ab und denkt über sein Leben und das seiner Mutter nach. Intensiv. Manchmal philososphisch. Manchmal wie, ja, wie ein Kind, das er noch ist.

So entsteht ein plastisches Bild vom Leben dieser Kleinfamilie ohne Vater. Eine labile Mutter, depressiv, auf der Suche nach Leben und Liebe und immer wieder in das große schwarze Loch fallend, wenn es mal wieder nichts war. Ein Junge, der sagt, man muss schon der Sohn sein und sie sehr lieben, um mit ihr leben zu können – noch beim Schreiben dieses Zitats überläuft mich ein Schauer: so traurig, so wahr und so desillusioniert ist er. Dabei ist seine Phantasie Lucas große Gabe. Er kann sich alle möglichen Szenen ausdenken – und mit dieser Phantasie schafft er dann auch an einem besonders scheußlichen Abend, einige Tage nach dem Tod der Mutter, den Gang über den gefährlichen Flur in die Küche, um sich etwas zu essen zu holen. In solchen Bildern wird die Verletztheit Lucas mit Händen greifbar.

Marina Mander schreibt einen 180 Seiten umfassenden Inneren Monolog aus der Perspektive eines aufgeweckten, traumatisierten Jungen – mit kurzen Dialogbröckchen, wenn er mit anderen Menschen oder Blu spricht. Sie nutzt eine einfache Sprache, kindlich in der Anmutung – aber wirklich nicht im Inhalt!

Das Cover zeigt einen Jungen auf einem Einrad, der angestrengt die Balance hält – so wie Luca in seinem plötzlich ganz und gar mutterloden Dasein. Für eine Woche begleitet Marina Mander ihn, eine Woche, die länger ist als manches Jahr.

Es ist eine berührende Geschichte in einer Sprache, die mich in die Haut dieses Kindes schlüpfen lässt. Empfehlenswert.

Marina Mander: Meine erste Lüge, Piper Verlag, München, 2013, ISBN: 9783492055437

PS: Es ist ja wohl meine eigene – unbewusste – Auswahl, aber diese Geschichte hat mich sehr an einen anderen Roman aus Italien erinnert, den ich letztes Jahr besprochen habe: Du und ich von Niccolo Ammniti. Wenn man nur diese beiden Bücher sieht, könnte man meinen, Kindheit in Italien sei schon sehr hart …

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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