Weshalb ich mir dieses Buch ausgesucht habe? Wegen des Titels – und wegen der Bedeutung, die die Bibliothek – laut Klappentext – darin spielt. Saphia Azzeddine hat einen Coming-of-Age-Roman verfasst, der zwei Enden der Gesellschaft zusammenbindet: Bildung durch Lesen, Bücher, Bibliothek, Medienkompetenz usw. und dagegen das prekäre Leben einer Pariser Banlieue.
Paul, vom Vater Polo genannt will da raus, aus der Banlieue, aus der Perspektivlosigkeit. Und die Wörter, die er aus den Büchern holt, die er eigentlich nur abstauben soll, sind sein persönlicher Weg. Er lernt sie und versucht, sie zu benutzen. Nachdem er ein paar Wörter gelernt hat, die in seinem Umfeld völlig unbekannt sind, beginnt er, die Bücher vollständig zu lesen:. Balzac, Montaigne und viele andere.
Der Roman beginnt mit dem Satz, der auch den Titel bildet: „Mein Vater ist Putzfrau.“ Als Reinigungskraft muss Pauls Vater auch in der Bibliothek saubermachen. Und Polo hilft ihm – auch bei anderen Putzeinsätzen, aber besonders gern in der Bibliothek. Am Anfang ist er 14 Jahre alt.
Wir lernen die Familie kennen, die gelähmte Mutter, die nur die Glotze laufen lässt, die Schwester, deren einziges Ziel es ist, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen, die Verwandtschaft in der Provinz- von dort ist die Familie in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Paris geflohen – und eben den Vater, einen Vater, wie ein Heranwachsender ihn sich eher nicht wünscht, ein Vater, der auf allen Vieren kriecht, um sauber zu machen, ein Vater, der nicht mit seinem Sohn ans Meer fahren kann. Aber eben auch ein Vater, der einfach für Polo da ist, der an ihn und seine Fähigkeiten glaubt, so sehr, dass der eben durchs Abi gekrachte Sohn einen schon kriminellen Schlenker vollführt, um es doch zu bekommen.
Saphia Azzeddine begleitet Paul durch die Jahre der Pubertät, durch die ambivalente Haltung gegenüber dem Vater – gerade diese Vater-Sohn-Beziehung ist vielschichtig und sehr anrührend -, durch seine vom Sex besessenen Gedanken gegenüber Mädchen und Frauen (eine Parallele übrigens zu dem Roman von Verena Güntner – eine in meinen Augen manchmal überraschende Innensicht in die Befindlichkeit heranwachsender Jungen durch die Autorinnen; wie realistisch sie ist …?), seine Suche nach dem, was für ihn zählt in einer Umgebung, die ganz anders tickt.
Einen Blick in die Bevölkerung der Banlieue vermittelt Saphia Azzeddine ebenfalls: Die muslimische Familie, die Paul beim Fastenbrechen besucht und und bei der er sich wünscht, dazugehören zu können, die Klassenkameraden, die im Sommer in die Heimatdörfer ihrer Familien reisen, die Aggressivität und Perspektivlosigkeit. Doch auch das Leben in der Provinz, dem die Familie enfloh ist keine heile Welt – sexueller Missbrauch ist das, was Paul erlebt. Und was sein Cousin da so treibt, ist auch nicht wirklich in Ordnung …
Paul ist ein Junge und später junger Mann, der sich mit Humor und viel Gefühl durch diese seine Welt und ihre Widersprüche kämpft – Saphia Azzeddine hat das in meinen Augen auch in den ganzen Wechseln sehr schön eingefangen. Das Buch hat Stellen, die zu Tränen rühren, Stellen, die wütend machen und wirklich viele, die zum Lachen reizen.
Auch wenn die Bibliothek im Laufe der Zeit für Paul ihre Bedeutung ein wenig verliert – die Initialzündung der Erfahrung, dass Bücher, dass Wörter, dass Lesen den Horizont erweitern, das Leben bunter und vielschichter erlebbar machen, die bleibt präsent.
Saphia Azzeddine: Mein Vater ist Putzfrau, deutsch von Birgit Leib, Klaus Wagenbach Verlag, Berlin, , ISBN: 9783803132703
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