Da hab ich mich auf das Debut von Tina Pruschmann gefreut und erwartungsfroh den E-Reader angeschmissen – und musste feststellen, dass es sich um ein Buch handelt, das bei mir als E-Book nicht funktioniert. Als ich es dann in der Bibliothek als Druckwerk bekam, war ich froh – endlich konnte ich das Werk so lesen, wie es mir gefiel.
Tina Pruschmann erzählt nämlich nicht chronologisch. Jeder Abschnitt ist mit einem Datum versehen (Zeitraum 1960 bis heute, zuzüglich der Kriegszeiten, von denen einzelne Personen erzählen) und ich musste immer mal wieder zurückblättern, um Personen und Zeiten zuzuordnen. Dabei entfaltet Tina Pruschmann mit ihrer Sprache einen regelrechten Sog – ihre Figuren assoziieren viel, besonders die 88-jährige Elena im ersten Teil, einem der längsten im ganzen Buch, und lassen so sehr tiefe Blicke in ihr Inneres zu. Das ist nicht immer erfreulich, nein, denn das Leben hat viele der Menschen hart angefasst. Zwischen ihnen finden sich Charaktere wie Malte, den ich das erste Mal angelnd erlebe – und nach meiner Wahrnehmung voll betrunken; das sieht er aber wohl nicht so. Die Ärztin, mit der er später in Kontakt ist, bringt er mit seinen Fragen und Zweifeln am „normalen“ Leben vielleicht nicht ins Grübeln – aber mich. Seine Erinnerungen an die Zeit mit Maria sind glasklar. Genauso wie Marias Erinnerungen. Und die ihres Sohnes? Auch Jan hat, das zeigt sich spät, deutliche Erinnerungen an Sachen, die er als Kind erlebte.
Jan ist das Bindeglied zwischen dieser „Familie“ und der von Elena; die Freundin von Elenas Enkel Daniel war eine Zeitlang mit Jan befreundet – sie waren beide Außenseiter. Dann gibt es Elenas Töchter, besonders Martina, deren Kindheitsfreundin Rike als Kind vom Kirschbaum stürzte – eine erschütternde Erfahrung für die kleine Martina, in vielerlei Hinsicht. Und für Elena, denn daran erinnert sie sich bei der Feier ihres Geburtstags.
Der Anfang ist besonders geheimnisvoll: Ein Ingenieur beißt sich im Wortsinne an einem uralten Brunnen die Zähne aus. Ich hab da die ganze Zeit gewartet, ob er mit wem von den anderen verwandt oder mit jemandem befreundet sein könnte, konnte aber nichts entdecken. Diese sehr plastische Szene war während des ganzen Buches als Stachel, als Haken, als Störelement im Hinterkopf – ganz zum Schluss gibts dann den erlösenden Hinweis. Und die Idee, dass im vollkommenen Moment die Zeit stehenbleibt
Tina Pruschmann kann mit Wörtern intensive Stimmungen heraufbeschwören – zwischen all‘ dem Leid, das ihren Figuren widerfährt, begegne ich auch Momenten intensiver Lebensfreude, großer Abgeklärtheit und Weisheit.
Es ist kein Buch zum Schnell-mal-ebenDurchschmökern – aber als ich mich drauf eingelassen habe, wollte es zügig zu Ende gelesen werden, mit der dafür nötigen Konzentration. Und es bleibt sicher nicht bei dieser einen Lektüre – den verborgenen Fäden nachzuspüren, ist eine reizvolle Sache.
Tina Pruschmann: Lostage, Residenz Verlag, Salzburg, Wien, 2017, ISBN: 9783701716807 .
Das Buch und das E-Book gibts auch in der Stadtbibliothek Köln.
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