Sagt Ihnen der Name Larissa Reissner etwas? Ich kannte ihn nicht, bis ich das Buch mit diesem Titel entdeckte, das in diesem Jahr ja eine gewissen Jubiläumscharakter hat. Und ehrlich gesagt ein klein bisschen irreführend ist … Zum Glück gibt es ein Vorwort von Steffen Kopetzki, der genau erklärt, wer Larissa Reisner nun eigentlich war.
Wer war Larissa Reissner?
Sie war eine Revolutionärin! In guter Familientradition – ihr Vater verlor im zaristischen Russland seinen Job, weil er sich für Revolutionäre einsetzte. Gegen den Ersten Weltkrieg war sie auch – mit ihrem Vater zusammen brachte sie eine pazifistische Zeitschrift heraus. Sie wurde Bolschewistin und war dann aber auch militärisch tätig. Als Frau in – militärischer – Führungsposition hatte sie dann einiges zu kämpfen. Im doppelten Wortsinne. Sie war politisch wach und engagiert. Mit ihrem Mann zusammen erarbeitete sie während seiner Diplomatenzeit in Afghanistan einen Friedensvertrag zwischen Afghanistan und der Sowjetunion.
Und sie schrieb. In erster Linie Reportagen. Im vorliegenden Band sind nun Reportagen versammelt, die sie einerseits auf ihrer Reise durch Deutschland, eben die deutsche Republik, geschrieben hatte – ergänzend sind aber auch andere Texte dabei. Übrigens auch Texte, die nicht von 1924 stammen. 😉
Sie ist im Oktober 1923 zum Beispiel in Berlin und beschäftigt sich mit Arbeitern: „In einer gut situierten Arbeiterfamilie“ heißt der eine Text, um den „(Der) 9. November im Arbeiterviertel“ geht es in einem anderen. Besonders die gut situierte Arbeiterfamilie ist aus heutiger Sicht ein klein bisschen beunruhigend – die Fragen nach Revolution, die dort erklingen, lassen mit dem Wissen von heute nichts Gutes erahnen. Das aber konnte Larissa Reissner noch nicht wissen.
Sie starb jung, mit nur 30 Jahren, an Typhus in Moskau. Bis dahin war sie bereits eine Berühmtheit.
Den Schluss des Bandes bildet ein Text von Joseph Roth: „Die Frau auf den Barrikaden“, denn unter diesem Namen war sie bekannt.
Und der Stil?
Larissa Reissner schreibt drastisch und plastisch:
Hilde ist niemals hungrig. Ihr Vater ist ein erstklassiger Facharbeiter, ihre Mutter strickt ihr mit der Maschine Strümpfe, Unterjacken und warme Handschuhe. Dies ist eine der wenigen Arbeiterfamilien, auf deren Tisch die Fleischbrühe, das Brot, die Kartoffeln, das Fett und der Kaffee niemals ausgehen. Und da das ganze Planetensystem der häuslichen Sorgen, da alle Gespräche, alle Wünsche und Ängste sich um die dick mit nahrhafter Margarine bestrichene Stulle, um die unter dem Sofa versteckten Säcke mit Kartoffeln, um die in der Kammer aufgehängten und gestapelten Esswaren drehen, darum besteht Hildes Seele aus dicken, fetttriefenden Würsten, und wenn diese Seele einmal erwachsen ist, dann wird sie die starke, glänzende Kruppe eines Lastpferds haben und nach nahrhaftem Bier riechen. S. 108 f.
Das ist ein Ausschnitt aus „In einer gut situierten Arbeiterfamilie“.
Vielen der eher plakativ-politischen Aussagen der Autorin kann ich nicht folgen, aber sie hat einen klaren Blick auf die Details, die als Zeugnis ihrer Zeit gelten können. Eine Entdeckung.
Larissa Reissner: 1924 – eine Reise durch die deutsche Republik. Herausgegeben von Steffen Kopetzky, Rowohlt Verlag, Berlin, 2024 , ISBN: 9783737101998
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