Marianengraben von Jasmin Schreiber

Marianengraben von Jasmin Schreiber

Das Debut von Jasmin Schreiber hatte ich schon länger auf der Leseliste – und hatte mir was ganz anderes vorgestellt. (Ich lese ja nicht im Vorfeld anderer Leuts Rezensionen oder so). Und hätte mir jemand von der Ausgangskonstellation erzählt, hätte ich mich nicht dran getraut – im Moment schon gar nicht, viel zu nah am Wasser gebaut.

Was erzählt Jasmin Schreiber?

Sie erzählt vom Trauern. Vom Loslassen. Vom, ja, das auch, Sich-wieder-Finden.

Und ich musste fast gar nicht weinen. 😉

Nach eigener Aussage ist ihr Thema die Geschwisterliebe.

Paula hat ihren Bruder verloren. Er wurde nur 10 Jahre alt. Er war ihr Ein und Alles. Das Buch beginnt also mit einem einseitigen Dialog: Paula spricht zu Tim.

Dein allerallerallerliebstes Tier war der Gespensterfisch – bei dir mussten es mindestens drei „aller“ sein, wenn dir etwas ganz besonders wichtig war.“

S. 9

Das ist der erste Satz im ersten Kapitel, das mit „11000“ überschrieben ist.

Der Verlust hat also schon stattgefunden – puh, das hat mich erleichtert. (albern, ich weiß – is‘ aber so)

Es gibt noch eine Art Prolog – ein Dialog zwischen Tim und Paula, so ganz aus dem Nichts, mit einem großen Versprechen, kursiv gesetzt, nur die beiden Stimmen. Aber der allerallerallererste Satz des Romans, das ist der eben zitierte.

„11000“ als Überschrift

Gleich mal googeln: Ja, der Marianengraben ist an seiner tiefsten Stelle 11 km tief.

Vor blauem Hintergrund ein Fisch mit schwarzem oder dunklem Körper, der Kopf ist hell und durchsichtig. Der Lieblingsfisch von Paulas Bruder Tim im Debut von Jasmin Schreiber
Einer von Tims Lieblingen – ein so genannter Gespensterfisch. Kim Reisenbichler, Macropinna Microstoma, CC BY-SA 4.0

An dieser Stelle hockt Paula. Seit zwei Jahren. Seit Tims Tod. Ihr Therapeut gibt ihr den Tipp, doch mal das Grab zu besuchen, doch Paula hat Angst davor, am Grab ihres kleinen Bruders beobachtet zu werden. Also überlegt sie, im Friedhof nachts einzubrechen. Strategisch geht sie vor und erfolgreich ist sie auch. Doch dann begegnet sie dort Helmut – der will Helga mitnehmen. Beide hören die Friedhofsgärtner. Paula gräbt Helga aus, die beiden ungleichen Friedhofsruhestörer*innen klettern über die Mauer. Da Helmut dummerweise testen will, ob die Urne leicht aufgeht, geht sie leicht auf und überpudert Paula mit Asche, mit Helga. Mit einem Riesenaufwand sorgt Helmut dafür, dass nichts von der Asche verloren geht. Er will in seine Heimat. Paula wohnt quasi auf dem Weg, er soll sie dort absetzen. Doch es kommt anders. Und es beginnt ein Roadtrip der besonderen Art – mit vielen vielen Pinkelpausen, denn Helmut ist über 80.

Die beiden ungleichen Reisegefährt*innen erfahren so peu à peu etwas übereinander. Als Leserin bekomme ich schon vor Helmut einiges von Paula mit. Ich erfahre, wie es war, als richtig große Schwester von Tim zu leben, einem Kind, das ständig Fragen stellt, sich Gedanken macht, Tiere über alles liebt, einen Beluga-Wal als Haustier will und über die Option verzweifelt, dass im Rahmen der Klimaerwärmung die Fische in Flüssen und Seen an der Luft ersticken werden.

Paula erfährt von Helmuts Leben, von Helga, von Christoph, von Regina – seinen Verlusten.

Gemeinsam sind sie auf dem Weg in die Berge. Irgendwann bekommt Paula mit, dass das Brummen und Rauschen zu einem Sauerstoffgerät gehört, das Helmut immer häufiger benötigt.

Sie schaffen es, bis zu Helmuts Elternhaus. Er erreicht seine Ziele. Und bei aller Bärbeißigkeit gibt er Paula den einen oder anderen Tipp – so von Trauerndem zu Trauernder.

Klar, Paula hat eine Depression – sie hockt ganz tief in ihrem seelischen Marianengraben. Doch die Zahlen zeigen an: Es geht aufwärts. Das letzte Kapitel hat als Überschrift „0“. Doch zwischendurch geht es wieder mal runter.

Wie schreibt Jasmin Schreiber?

Sehr nah dran. Die Innensicht von Paula macht mir möglich, ihre tiefe Liebe zum kleinen Bruder wirklich mitzuspüren. Auch ihre Verzweiflung, die ihr am Anfang so völlig alternativlos erscheint.

Präzise Sprache für genau geschilderte Gefühle:

Und jetzt liebe ich dich nur noch in einer Zwischenwelt aus Präteritum und Konjunktiv und in einer Realität, die vor deinem Tod ein Leben und danach nur noch ein Zustand war.

S. 11

Präzise Frage:

„Wollen Sie sterben?“ fragte Helmut noch einmal.

„Das sagte ich doch bereits.“

Oder“, unterbrach er mich laut, „oder wollen Sie gerade einfach nicht leben?“

S. 140

Die Erklärung, die Helmut danach gibt, ist durchaus lesenswert.

Was von Jasmin Schreibers Leben und Arbeiten fließt in den Roman ein?

  • Jasmin Schreiber ist wie ihre Protagonistin Biologin.
  • Sie arbeitet ehrenamtlich als Sterbe- und Trauerbegleiterin und als Fotografin von Sternenkindern.
  • Sie ist selber an einer Depression erkrankt.
  • Und sie liebt ihren Bruder sehr.

Jasmin Schreiber. Marianengraben, Eichborn Verlag, Frankfurt/Main, 2020, ISBN: 9783847900429, E-Book: 9783732587957

Die Stadtbibliothek Köln hat das Buch und das E-Book.

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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