Ich bin Linus von Linus Giese

Ich bin Linus von Linus Giese

„Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war“ lautet der Untertitel dieses ungewöhnlichen Buches von Linus Giese. Mit Erscheinen dieser Rezension wird in einem alten Beitrag von mir, der Name angepasst. Dazu gleich mehr.

Was erzählt Linus Giese?

Seine Geschichte. Und die beginnt in diesem Buch mit einem Kaffeebecher in einem Bahnhofscafé. Linus nennt zum ersten Mal den Namen, unter dem er jetzt leben will. Denn Linus ist ein trans Mann. Die körperlichen Merkmale sind die einer Frau, doch Linus ist Linus, keine Frau, sondern ein Mann.

Und nun nimmt Linus mich quasi an die Hand. Ich begleite ihn durch die Monate, in denen die Verwandlung geschieht. Verwandlung? Nicht gnaz passend. Vielleicht eher Entpuppung. Aus dem Frauenkörper windet sich der Mann heraus, der darin steckt. Das alles ist nicht leicht.

Weder für Linus selbst. Noch für seine Umgebung.

Als mittelalte cis Frau, die allen Kriterien der Heterogesellschaftsnorm entspricht, ist dies eine Reise in sehr unbekanntes Gelände.

Linus Giese lässt mich als Leserin teilhaben an dem, was er von seiner Transition öffentlich machen will. Und das ist nicht wenig.

Ich erlebe mit, wie er unter den falschen Pronomen leidet – „sie“ statt „er“. Je weiter die Transition äußerlich vorankommt, desto seltener. Aber wenn, dann von Menschen, die ihn wegen seines So-Seins ablehnen. Nicht als Person. Sie kennen ihn ja nicht. Sondern als „etwas“, als fremd. Als ein die gelernte Ordnung der Dinge in Frage stellendes Statement – nein, es gibt nicht nur Mann und Frau. Punkt.

Eine solche Transition ist ein langer, schwieriger und auch schmerzhafter Prozess. Linus Giese zeigt auch die vielen Tiefs, die er durchlebt hat.

Ich habe aus diesem Buch sehr viel gelernt.

Und wie erzählt man so was?

Sehr persönlich. Uns sprachlich eher schlicht. Das ist auch sinnvoll.

Gewisse Aspekte kommen wiederholt vor. Was auch gut ist. Erst nachdem ich als Nicht-Betroffene ein paar weitere Informationen bekommen habe, kann ich bei bestimmte Informationen einordnen, wie das sich das denn anfühlt, was da so weh tut. Also auch hier nimmt mich Linus Giese quasi an die Hand und macht mir Erlebnisse zugänglich, die außerhalb meiner Erfahrung liegen.

Ich habe vorher bereits mit Transition zu tun gehabt – auf große Distanz. Die biographischen und gesellschaftlichen Folgen konnte ich mir nicht vorstellen. Es ist kein „Ich hab das jetzt gemacht und gut is.“ Es ist ein immerwährender Prozess. Schon allein, weil eine regelmäßige Hormongabe nötig ist. Und weil immer wieder Irritation aufkommt, wenn ein Gegenüber – na eben – irritiert ist. Ein Mann mit Vagina ist nicht die Regel, sondern eine Ausnahme. Doch eine mit denselben Rechten und Wünschen und Sehnsüchten wie ich als cis Frau oder mein Partner als cis Mann.

Eine Transition ist nix wirklich Neues – der dänische Maler Einar Wegener (Andreas Sparre) transitionierte in den 20ern des letzten Jahrhunderts von einem Mann zu einer Frau. Man into Woman, An Authentic Record of a Cha. Credit: Wellcome Collection. Attribution 4.0 International (CC BY 4.0)

Warum ist es ein wichtiges Buch?

Linus Giese hat seit seinem Coming-Out, mit seinem zweiten Blog und jetzt mit dem Buch einen großen Schritt in die Öffentlichkeit gewagt. Mit einem Thema, dass der Mehrheit fremd ist. Viele verunsichert. Und mit dem er sich auch Hass aussetzt (die Passagen im Buch sind wirklich heftig!).

Warum tut er sich das an?

Es gibt eine Reihe von Interviews mit Linus Giese; er hat für verschiedene Zeitungen zum Thema geschrieben. Denn es ist ein Thema, das in die Öffentlichkeit gehört.

Und das ist sein Anliegen.

Er will über die Bedingungen aufklären, die er als trans Mann vorfindet.

Er will über Sprache schreiben, die trans Menschen nicht verletzt.

Mit „sie“ angesprochen zu werden, ist für ihn schmerzhaft und verletzend. Ich kann als cis Frau von über einsachtzig locker damit umgehen, dass ich in jungen Jahren oft für ’nen Kerl gehalten wurde; doch das hat meine Identität als cis Frau nie beeinträchtigt. Für einen Menschen, der viele Jahre mit seiner „Einordnung in Geschlechterschubladen“ gekämpft hat, sieht das ganz anders aus.

Ich habe Linus Giese kurz vor seinem Coming-Out einmal gesehen und auch darüber geschrieben. Sein alter Name wird nun aus meinem Beitrag verschwinden. Denn wie es im Untertitel heißt „der Mann (….), der ich immer schon war“ – auch damals war Linus Giese Linus Giese, auch wenn er da noch anders hieß und als Frau „gelesen“ wurde; so nennt er es.

Ach ja, und wenn Sie meinen, das müsste eine traurige oder niederdrückende Lektüre sein: Nö. Linus Giese vermag durchaus rüberzubringen, wie befreit und stimmig sich sein Leben nun anfühlt.

Linus Giese: Ich bin Linus. Wie ich der Mann wurde, der ich immer schon waar, Rowohlt Verlag, Hamburg, 2020, ISBN: 97834990003127

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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