Inhalt des Beitrags
Wer hier schon ein paar Jahre mitliest, hat meine Entwicklung in Sachen Haiku-Schreiben verfolgen können. Von den ersten, mich selbst überraschenden, Versen bis hin zu Krimi-Haiku habe ich mich mit der Form dieser Kurzgedichte beschäftigt. Und tue das weiterhin. So bin ich zu einem Artikel gekommen, der mich im Sommer sehr beschäftigt hat: „Überschwang durch Überschuss. Probleme beim Übersetzen einer Form – am Beispiel des Haiku“ von Arata Takeda. Er erschien bereits im Jahre 2007 in der Zeitschrift Arcadia. Es handelt sich um einen Vortrag aus einem Kompartistikseminar; Takeda ist Komparatist.
Was besagt der Aufsatz von Arata Takeda?
Ich fasse hier mal kurz zusammen, was mich an dem Aufsatz so beschäftigt hat. Takeda sagt, dass Silben in europäischen Sprachen sehr viel inhaltsreicher sein als im Japanischen (Seite 28) – er legt auch dar, woran er das festmacht – und postuliert deshalb, dass das Schema von 5-7-5 Silben in europäischen Sprachen zu üppig sei, um der knappen Form des Haiku zu entsprechen. Sowohl die sprachliche als auch die grafische Form des japanischen Haiku böten keine Bequemlichkeit für die Lesenden.
Das Schema 5-7-5 sei weder grafisch dargestellt, noch seien die Wörter grafisch eindeutig unterschieden. Durch die von europäischen Sprachen vollkommen unterschiedliche Struktur des Japanischen sei auch das 5-7-5-Schema nicht einfach auf Silben zu übertragen, da japanische Silben eben viel weniger Inhalt böten. Er plädiert deshalb bei der Übersetzung von Haiku aus dem Japanischen in eine europäische Sprache für eine Reduktion der zu verwendenden Silben. Als Beispiel nimmt er ein Haiku von Bashô. Ich zitiere (Seite 33):
Furu ike ya | kawazu tobikomu | mizu no ote
Alt Teich | Frosch hineinspringen | des Wassers Ton
Hier wird mit der Interlinearübersetzung noch einmal deutlich, dass die japanische Sprache anders aufgebaut ist: Flexionen sind nicht gebräuchlich; stattdessen nutzt die japanische Sprache Suffixe und andere Partikel, um zum Beispiel Zeitformen darzustellen.
Es folgen nun bei Takeda drei unterschiedliche Übersetzungen ins Englische, Französische und Deutsche. Bei allen konstatiert er, dass sie Sachen hinzu erfinden: Im englischen Text sind es mehrere Frösche, die katapultiert werden, im Deutschen wird aus dem Frosch ein „Fröschlein“ und der „Ufersaum“ kommt hinzu.
Das alles sei zum großen Teil der nicht zutreffenden Übertragung von 17 japanischen in 17 europäische Silben geschuldet. Sagt Takeda. Bei der Übertragung klassischer Formen aus dem Altertum habe man sich immer auch um Formentreue bemüht. Das wünscht sich Takeda auch für Haiku. Am Ende bringt er eine Übertragung des Bashô-Haiku, die seiner Idee entspricht. Er bietet sie auch grafisch so dar, wie im japanischen Haiku gedruckt werden (Seite 44):
Sie müssen sich die Wortabstände wesentlich kleiner vorstellen.
Als Hinweis, wie er sich die Anzahl von Silben bei europäischen Sprachen vorstellt, nennt er 3-4-3 – insgesamt also 10 statt 17 Silben.
Meine Experimente mit der von Takeda vorgeschlagenen Form
Ich habe nun versucht, einige meiner Haiku dieser Verschlankungskur zu unterziehen. Es folgen nun die ursprünglichen Texte mit Angabe des Bandes, in dem sie erschienen sind und darauf die verkürzte Form:
Efeuumschlungen,
schwarz-schrundig, Baumgreis,
blütenschleierüberhaucht
Aus: 111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku, Seite 70
Die 10-Silben-Version:
Baumgreis im Bachtal
Nebelgenährter Moosbart
tunkt ins Spiegelbild
Aus: 111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku, Seite 80
Die 10-Silben-Version:
Natürlich musste ich mich auch an neuene Texten in dieser Form versuchen:
Auch das Bashô-Haiku aus dem Artikel von Arata Takeda habe ich in zehn Silben zu fassen versucht:
Wie Sie erkennen können, habe ich auch die Lesehilfsmittel wie Satzzeichen weggelassen, um dem japanischen Original, wie Takeda es darstellt, möglichst nahezukommen.
Ich freue mich, wenn Sie mir sagen, was Sie von diesen Versuchen halten.
Weshalb ich Arata Takeda trotzdem nicht folgen werde
Als erstes vorweg: ich kann kein Japanisch! Ich bin keine Übersetzungsfachfrau oder Komparatistin. Ich habe nur in den letzten Jahren Haiku geschrieben und mir über die Form durchaus Gedanken gemacht. Das können Sie in meinen kleinen Vor- und Nachworten zu meinen Bänden nachvollziehen. Ich mache mir hier an dieser Stelle also „einfach so“ Gedanken zu dem Thema, ohne tatsächlich „qualifiziert“ zu sein. Ich möchte meine Gedanken mit Ihnen teilen.
So, und nun: warum werde ich den Ideen von Arata Takeda nicht folgen?
Ich finde seine Gedanken erhellend und bereichernd. Doch sehe ich einen Denkfehler. Er bescheinigt den europäischen Dichtern und Dichterinnen, sie seien bei der Übernahme von Formen aus dem Altertum sehr penibel gewesen. Bei der Frage, wie viele Silben die Übersetzung von „cogito, ergo sum“ in andere europäische Sprachen aufweist, macht er die verwandtschaftliche Nähe von Latein zu Französisch, Englisch und sogar Deutsch deutlich. Und genau das ist der Punkt. Viele Wörter können in Europa auf indogermanische Wurzeln zurückgeführt werden. Die Strukturen dieser Sprachen weisen Ähnlichkeiten auf – Flexionen von Wörtern, die Nutzung von Artikeln, teilweise dieselben Wortstämme.
Das Japanische ist davon völlig verschieden. Das betont Takeda selbst. Deshalb greift in meinen Augen der Vergleich von formal korrekter Übernahme antiker Formen nicht, wenn daneben die Übernahme von Formen aus einer völlig anderen Sprache steht, die keine Wurzeln mit der Zielsprache teilt. Denn die antiken Sprachen Latein und Griechisch sind mit den Zielpsrachen verwandt.
Nach meinem Wissen gibt es keine derartigen Übernahmen literarischer Formen aus anderen nicht-europäischen Sprachen, z. B. vom afrikanischen Kontinent. Auch aus dem Chinesischen oder anderen ostasiatischen Sprachen gibt es meines Wissens keine solche gewünschte Eins-zu-eins-Übernahme, wie es das Haiku darstellt, die ja quasi eine Aneignung ist. In einem anderen Artikel habe ich gelesen, dass das „deutsche Haiku“ schon als eine eigene Form bezeichnet werden kann.
In einem großen Teil der Auseinandersetzung mit dem Thema geht es um Übersetzungen. Das Verfassen eigener Haiku in deutscher Sprache, oder auch in anderen europäischen Sprachen, ist davon nicht ganz so weit entfernt, dass man diese Gedanken nicht auch darauf beziehen könnte. Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, wie streng die 5-7-5 Silben aufgefasst werden sollen. Das gilt für Autor*innen deutschsprachiger Haiku genau wie in anderen europäischen Sprachen auch, sei es nun eine Übersetzung oder ein neu geschaffenes Haiku. Die Bandbreite ist recht groß, wenn man sich mal ein bisschen auf verschiedenen Seiten umtut. Es gibt in fast jedem Land eine Haiku-Gesellschaft oder ähnliche Institutionen.
Aufgrund des von mir oben postulierten Denkfehlers von Arata Takeda werde ich seine Form nicht eins zu eins für meine Haiku übernehmen, sehe aber die Möglichkeit, mit diesem zusätzlichen Impuls noch ein bisschen mehr mit der Form zu spielen. Auch wenn ich weiß, dass ein solcher spielerischer Umgang mit der Form Arata Takeda wahrscheinlich nicht gefallen würde.
Wen nun meine Haiku-Bänder interessieren: Hier gibt es eine Übersicht.
PS: Bei Versuchen mithilfe von Tools wie Research Rabbit oder Connected Papers herauszufinden, wer sich mit den Ideen von Arata Takeda befasst hat, habe ich nichts gefunden …
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