Gedicht zum Tag – Die Frau mit dem Adlerweibchen von Gertrud Kolmar

Gedicht zum Tag – Die Frau mit dem Adlerweibchen von Gertrud Kolmar
Die Frau mit dem Adlerweibchen

»Mein Junges, deine Federn sind durchnäßt,
Verklebt und wirr, laß mich sie glätten.« -
»Mein lieber Sohn, ich will deinen Anzug plätten
Und diesen Weinfleck reiben, der noch überblieb vom Fest.

»Mein Adler! Hüte dich! In jeder Schlucht,
In jeder Felsgestalt sind hohle Augen, schwarze Läufe, die dir lauern.« -
»Mein Knabe! Dir entzündet sich das Lächeln schlimmer Mauern,
Nur dir trägt jede Dirne ihr Gesicht als eine Frucht.«

»Mein Kind. Wie kreischst du deinen Sieg
Und breitest vor der Sonne dich aus in Ländern, drin nicht Menschen modern.« -
»Mein Kind. Ich fühlte goldrot deine Sinne lodern
Und silbern den Gedanken, der viel höher noch als Adler stieg.«

»Ihn hielten meine Flügel und nun sind sie leer,
Und ich weiß nicht, wo er geblieben.« -
»Er hat nur einmal aus New York geschrieben,
Und das ist auch schon lange, lange Wochen her.«

Gertrud Kolmar

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