Wie ist es, in einem unfreien Land auszuwachsen? Lea Ypi hat es erfahren. Und den grundlegenden Wechsel, als sie erwachsen wurde.
Was erzählt Lea Ypi?
Ihr Leben in Albanien. 1979 geboren, steht ihre Kindheit unter stalinistischer Indoktrinierung. Und sie macht eifrig mit. Der Staatsführer – „Onkel Enver“ – ist eine positive Figur. Lehrerin Nora erzählt am Anfang des Buches den Kindern davon, was für ein wunderbarer Mensch Stalin war, der mit den Augen lächeln konnte. Ein Wunder!
Erwähnt Ypi im Unterricht etwas, das sie von ihrer Großmutter gehört hat, wird sie ignoriert.
Ihr Nachname weckt bei anderen unliebsame Erinnerungen – da gab es doch mal diesen Politiker Xhaver Ypi … Nein, mit dem hat die Familie nichts zu tun. Sagen Eltern und Großmutter ihr und sie wiederholt es in de Schule.
Konsequent aus der Sicht des Kindes Lea schildert Lea Ypi deren Erfahrungen – von den Treffen mit den Nachbarn, der gegenseitigen Hilfe, den Festen und Streitigkeiten und den Gesprächen der Großen über Universitäten, die Familienmitglieder besucht haben.
Erst als der Staat zusammenbricht – da ist sie 11 Jahre alt -, erfährt sie nach und nach, was in ihrer Familie wirklich geschah. Dass sie so oft belogen wurde, macht ihr zu schaffen.
Alles Bekannte zerbricht. Alle müssen sich neu orientieren. Auch die Eltern. Mehr oder weniger erfolgreich. Schulfreundinnen und andere junge Menschen verlassen das Land. Politische Wirren und Bürgerkrieg gehören zu ihrem Erwachsenwerden. Am Ende verlässt auch Lea Ypi Albanien.
Und der Stil?
Wunderbar zu lesen. Lea Ypi schafft es, die Atmosphäre, die Naivität der kleinen Lea und später ihre Entwicklung hin zu einer kritischen Erwachsenen zu vermitteln. Sie schreibt eher lakonisch, nüchtern beschreibend – auch die Gefühle der heranwachsenden Lea.
Im Schlafzimmer meiner Eltern verfasste ich lange Briefe an Cocotte, eine Cousine meiner Großmutter, die allein in Tirana wohnte und manchmal den Winter bei uns verbrachte. Ich nannte sie „Gefängnisbriefe“, nummerierte sie durch und sortierte sie häufig nach Themen. Ich beklagte mich darin über die Strenge meiner Eltern, darüber, dass sie auf offener Straße Französisch mit mir sprachen und sich keine Gedanken machten, wie meine Freunde das finden könnten und dass sie immer schulische Höchstleistungen von mir erwarteten, selbst in Fächern wie Sport, für die ich gar kein Talent besaß.
S. 83f
Es gab jene, die die Mobilität zu ihrem Geschäft machten und Reisebüros eröffneten oder Menschen schmuggelten. Manche überlebten und wurden reich. Andere überlebten und mussten sich auch weiterhin abrackern. Wieder andere bezahlten den Versuch, die Grenze zu überqueren, mit ihrem Leben.
S. 198f
Lea Ypi: Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte, übersetzt von Eva Bonné, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2022, ISBN: 9783518430347
Die Stadtbibliothek Köln hat den Titel als E-Book und als Buch.
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