Frauen | Lyrik herausgegeben von Anna Bers

Frauen | Lyrik herausgegeben von Anna Bers

Das lag für mich unterm Weihnachtsbaum: „Frauen | Lyrik. Gedichte in deutscher Sprache“. Und ich hatte nichts geahnt, wusste nicht einmal, dass es erschienen war. Schande über mich*.

Umso größer die Freude!

Was findet sich in Frauen | Lyrik?

Mehr als 400 Gedichte von Frauen in deutscher Sprache – klar. Aber nicht nur. Es gibt auch einen Korpus von 94 Gedichten, die von Männern verfasst wurden, aber eine weibliche Perspektive einnehmen.

Die Anordnung ist chronologisch – es beginnt im Mittalelter und endet mit den Autorinnen unserer Zeit.

Die Perspektiven in Frauen | Lyrik

Anna Bers hat die Texte vier möglichen Perspektiven zugeordnet. Erkennbar sind sie an den vier Punkten oberhalb des Gedichts. Auf den ersten Blick wirken sie wie einfache graphische Unterteilungen zwischen den einzelnen Texten. Doch die Gestaltung – schwarz oder grau – macht den Unterschied.

  • der erste Punkt bezeichnet berühmte Gedichte von Frauen, die quasi schon länger zum „Kanon“ gehören
  • der zweite Punkt steht für Gedichte und Autorinnen, die sehr typisch für eine bestimmte Zeit sind
  • der dritte Punkt bezeichnet die Gedichte, die sich mit der Realtität von Frauen auseinandersetzen, einen emazipatorischen Anstrich haben
  • der vierte Punkt bezeichnet die Gedichte, die eine weibliche Perspektive einnehmen – hier können Sie dann auch Gedichte von Männern finden

Ein Gedicht kann einen oder mehrere schwarze Punkte aufweisen.

Holzschnitt Sybilla Schwarz
Sybilla Schwarz starb bereits mit 17 Jahren, hinterließ aber ein umfangreiches Werk, das in der Herzog-August-Bibliothek digitalisiert vorliegt (http://opac.lbs-braunschweig.gbv.de/DB=2/LNG=DU/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=per%20schwarz,%20sibylle+and+mat+o )

Und dann reden die Texte miteinander. Neben den Punkten gibt es mit einem dezenten Pfeil und einer Seitenzahl – oder auch zweien – den Hinweis auf verwandte Texte, zum Teil aus anderer Zeit. So gelange ich ins Vor- und Zurückblättern, Stöbern und Entdecken.

Biogramme in Frauen | Lyrik

Zu jeder Person, von der ein Gedicht in dieser Sammlung vertreten ist, gibt es ein „Biogramm“. Das sind nur wenige Zeilen, mit den Lebensdaten und einer kurzen Einordnung des schriftstellerischen Schaffens. Außerdem finden sich hier die Quellenagaben zu den Gedichten in der Sammlung.

Ich greif einfach mal zwei Beispiele heraus, so wie sie untereinander stehen:

Hedwig Rohde (1908-1990) war eine West-Berliner Autorin, Journalistin und Literaturkritikerin. 1936 erschien ihre Erzählung Das dunkle Herz, auf die weitere Erzählungen folgten. In ihrem Gedicht Einen Globus will ich haben werden nicht nur Geschlechterfragen aufgerufen, sondern auch Globalisierung und Waldsterben als Bedrohungsszenarien der 1980er Jahre einer kindlichen Froschkönig-Welt gegenüber gestellt. (Es folgen die Angaben zum Gedicht, d. V.)

Julie Roquette (geb. Penz, 1763-1823 erlangte um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert durch die Publikation zweier Gedicthtbände eine gewisse zeitgenössische Bekanntheit als Lyrikerin. Als Kind verlor Roquette unerwartet sowohl ihre Stimme als auch ihr Gehör. Der Grund weiblicher Halsstarrigkeit spielt auf die Genesis an, nach der Eva aus Adams Rippe geschaffen worden sei. Dieser Knochen – so spitzt es der Text zu – sei das einzig Negative, Böse, Halsstarrige an einer FRAU.(Es folgen die Angaben zum Gedicht, d. V.)

S. 759

Auch ein Ort zum Stöbern … (Oder sagen Ihnen die Namen was? Mir jedenfalls bisher nicht.)

Das Nachwort

Das hat es in sich. Zum einen erklärt Anna Bers, wie die Zusammenstellung entstand – das „Was ist warum drin“ der Sammlung. Bereits in diesem Abschnitt thematisiert sie die Marginalisierung von Frauen in Gesellschaft und Kultur.

Im nächsten Abschnitt geht es dann um „Geschlechternormen als Problem und als Auftrag“ – mit einem kurzen historischen Abriss über die Zweigeschlechthlichkeit als Norm und die Möglichkeit von Literatur/Lyrik, bestehende Normen in Frage zu stellen.

Auch die Frage nach „deutsch“ spielt im Nachwort eine Rolle – korrekt wäre „in deutscher Sprache“. Wobei gerade bei den mittelalterlichen und barocken Gedichten auch lateinische Texte vertreten sind. Was „deutsch“ auf keinen Fall heißt: bestimmte Regionen, politische oder nationale Zuordnungen o. Ä.

Auch die Frage, was ein Gedicht ist, streift Anna Bers, denn die Zurodnung hat sich im Laufe der Jahrhunderte durchaus geändert. Gerade was die Gedichte in der zweiten Perspektive betrifft, die so typisch für eine Zeit sind, stellt sich auch die Frage nach „schlechten“ Gedichten.

Das Vor- und Nachwort empfehle ich auf jeden Fall! Und natürlich das Entdecken von Dichterinnen und ihren Themen in der Lyrik. Die mehr als 500 Gedichte in diesem Band bieten reichlich Stoff dafür.

Ich bin hell begeistert von diesem Band.

Anna Bers (Hg.): Frauen | LyrikGedichte in deutscher Sprache. Im Auftrag der Wüstenrot Stiftung herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Anna Bers, Reclam Verlag, Stuttgart, 2020, ISBN: 97831501133059

Die Stadtbibliothek Köln hat das Buch auch im Bestand.

*Da ich im Grunde keine Rezensionsexemplare annehme, enthalte ich mich der Lektüre von Verlagsvorschauen …

Und nu?

Ja, nun werden Sie noch mehr Lyrik hier finden. Da in meiner Rubrik #HauptsacheLyrik Frauen allen Bemühungen zum Trotz immer noch unterrepräsentiert sind, bekommen Sie, wenn alles gut geht**, zwei Mal pro Monat ein Gedicht einer Frau präsentiert. Immer mittwochs, also am zweiten (oder dritten …) und am letzten Mittwoch im Monat. Ursprünglich wollte ich immer den letzten Mittwoch nehmen, deshalb die Variation bei manchen Monaten mit dem dritten.

Ich stelle die Texte genauso unkommentiert unter „Gedicht zum Tag“ ein wie bisher.

Meine Anregung kommen natürlich aus Frauen | Lyrik, aber auch andere Gedichtsammlungen bei mir im Haus, die ich nun gezielt nach Frauen durchstöbert habe. Im WWW bin ich auf die Seite Wortblume – Poetinnen gekommen und habe da noch einiges gefunden.

** Ich wollte je eigentlich keine Voraussagen mehr machen …

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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