Hätten Sie gedacht, dass es sich bei demim Titel des Buches genannten Emigranten des Lebens um Erich Kästner handelt?
Klar, er war in der Nazi-Zeit im inneren Exil – das ist ja bekannt. Aber „Emigrant des Lebens“ klingt grundsätzlicher, umfassender. Und das ist genau das, worum es Gregor Eisenhauer geht.
Was meint Gregor Eisenhauer mit „Emigrant des Lebens“?
Auch wenn das Buch den Untertitel „Erich Kästners letzte Jahre“ trägt, beschränkt sich Gregor Eisenhauer nicht auf die Zeit nach dem Krieg oder später. Er geht die Sache grundsätzlicher an. Das erste Kapitel war die Leseprobe zum Buch, die ich als mögliche Rezensentin zugeschickt bekam, und danach habe ich beschlossen, dass ich es lesen will, denn der Autor entfaltet hier bereits, was er meint: Erich Kästner ist in vielen Dingen vor dem Leben geflohen, weil er aufgrund der egoistischen Liebe seiner Mutter – ja, so hart drückt er das aus – nicht in die Lage kam, wirklich erwachsen und damit beziehungsfähig zu werden.
Diese These führt er aus – detailliert, kenntnisreich und sehr eloquent.
Er lässt die Beziehungen Kästner Revue passieren, zeigt auf, woran sie gescheitert sind. Zeigt auf, welche Ursachen er entdeckt, wenn er dieses Leben unter dem Aspekt einer egoistischen Mutterliebe betrachtet.
Erich Kästner, so Gregor Eisenhauer, ist mehrere Tode gestorben – als Fabian, der ein Kind rettet, das er selber war, als Autor eines großen Nachkriegsromans, den er nie geschaffen hat und dann als resignierter, kranker Mann, der sich förmlich zu Tode getrunken hat. Sein Tod war eindsam, und das treibt Gregor Eisenhauer um – deshalb hat er nach Erklärungen gesucht.
Gedanken um den Rausch punktieren die Betrachtungen im Buch – nicht nur Kästner und Luiselotte Enderle haben gesoffen. Andere vorher und nachher desgleichen: Joseph Roth und Irmgard Keun, in den TV-Sendungen der Zeit war neben Zigaretten das Glas mit Alkohol üblich, große Dichter der Literaturgeschichte – der Rausch als eine Daseinsform kreativer Menschen war immer eine Option. Der Rausch als „Mittel der Selbstfindung “ (S. 158) und als Zustand, in der die Verantwortung für den Selbsterhalt perdu geht. „Der Rausch ist Kindheit“ (S. 159),also auch eine Art Flucht – das funktioniert auf Dauer aber nur als Eskapade. Als Dauerzustand ist er tödlich.
Gregor Eisenhauer ordnet dieses eine Leben ein – im Vergleich zu Zeitgenoss*innen und Berufskolleg*innen, die alle unter dem Leben gelitten haben, auf die eine oder andere Weise. Auch die politischen Entwicklungen in den Jahren vor 1933 und nach 1945 analysiert Gregor Eisenhauer pointiert.
Er analysiert, dass Kästners Stil sich nicht weiterentwickelt hat/weiter entwickeln konnte und nach 1945 zunehmend „altväterlich“ wirkte. Wie schon Klaus Kordon und Sven Hanuschek – der eine Kästners Biograph für junge, der andere für erwachsene Leser*innen – festhielten, haben die 12 Jahre der Nazi-Zeit Kästner in Hinblick auf sein Schreiben quasi das Genick gebrochen.
Traurige Geschichte – traurig erzählt?
Gregor Eisenhauer befleißigt sich einer an Kästner geschulten Sprache. Das Thema ist unschön. Eigentlich will man das alles von Kästner gar nicht wissen, diesem Begleiter der Kindheit, dem Satiriker und Zeitgenossen wider alle Kriegstreiberei. Doch der Stil, in dem Eisenhauer das serviert, ist angemessen und fördert dem Inhalt zum Trotz die Leselust.
Wie Fabian sprang Kästner einem kleinen Jungen hinterher, der zu ertrinken drohte. Dieser kleine Junge war er selbst. Dieser kleine Junge hatte es schwer, weil er niemals wirklich Kind sein durfte. Das verhinderte ausgerechnet die Frau, die ihm das Leben geschenkt hatte. Niemals hätte Erich Kästner das Andenken seiner Mutter beschädigen wollen, doch in seinen Kindheitserinnerungen klingt zumindest an, wie schwer sie es sich und anderen gemacht hat und letztlich auch ihrem Sohn, der anfangs unter der Last ihrer Erwartungen immer stärker zu werden schien. Bis er schließlich zusammenbrach. Aber erst, als sie schon lange tot war. (S. 159)
Gregor Eisenhauer schreibt pointiert und schonungslos. Und fesselt gerade dadurch.
Am Ende erklärt er, dass es sich um eine persönliche Auseinandersetzung handelt:
Dieser Essay über das Sterben Erich Kästners ist keine literaturwissenschaftliche Arbeit, es ist der Versuch eines persönlichen Gesprächs mit dem Auto über den Tod hinaus. Alles, was ich aus seinem Werk, seinen Briefen und Gesprächen herauslese, steht folglich unter dem Verdacht der Voreingenommenheit. Keine meiner Überlegungen erhebt Anspruch auf Originalität. (S. 198)
Ich habe das Buch mit großem Gewinn gelesen – aufgrund meines Vortrags über Erich Kästner bin ich ja einigermaßen im Thema drin und musste feststellen, dass ich dazu neige, die unerfreulichen, bedrückenden Seiten seiner Biographie auch eher etwas aufzuhübschen. Die Kindheitshelden sterben zu sehen, ist bitter. Das zeigt Gregor Eisenhauer in seinem Buch.
Gregor Eisenhauer: Emigrant des Lebens. Erich Kästners letzte Jahre. Mitteldeutscher Verlag, 2024, ISBN: 9783963119576
Brigitte Keldungs-Reiners
6. September 2024 at 22:17Hallo Heike,
Schön dich auf der Feier von Martin und Ruth kennengelernt zu haben. Daraufhin habe ich deine Rezension der Erich Kästner Biographie von Gregor Eisenhauer gelesen, die mir Lust macht das Buch zu lesen. Vielen Dank dafür und das anregende Gespräch mit dir. Gerne auf der nächsten Feier wieder.
LG Brigitte
Heike Baller
23. September 2024 at 19:49Ach, das freut mich!