Ein silbern eingebundenes Buch liegt vor mir auf dem Tisch, eindeutig mit Lexikon-Charakter – und doch ein wirklich spannendes Projekt. David E. Wellbery schildert als Herausgeber im Vorwort das Konzept: Literaturgeschichte in Literaturgeschichten. Hier finden Sie keine Gattungen oder Epochen als Kapitelüberschriften – es sind rund 110 Beiträge verschiedener Autorinnen, die unter einem Datum, dem Datum eines Werks oder Ereignisses, einen Essay zu eben diesem Werk, seiner Autorin, den Umständen der Entstehung oder zur Bedeutung des Einzelwerks in seinem Kontext bieten. So kommen rund 1150 Seiten spannender Bleiwüste 😉 zusammen.
Ja, aufgelockert wird hier graphisch nix; den Beginn jeden Beitrags markiert eine Jahreszahl mit einem Satz, z. B.:
1670 Samuel Pufendorf wird nach Erscheinen seiner Geschichte der Staaten des Heiligen Römischen Reiches von deutschen Universitäten verwiesen und nimmt eine Stellung an der Universität Lund in Schweden an
oder
9. November 1989 Der Fall der Mauer führt zu einer neuen Form des Gedenkens
Nicht unbedingt Überschriften, die man in einer Literaturgeschichte erwartet …
Am Ende folgt dann nach dem Autorenamen ein ausführlicher bibliographischer Hinweis, kursiv gesetzt. Wenn man Glück hat, verfügt der Essay über Zwischenüberschriften, die in den Kopfzeilen der Seiten erscheinen. – Das war jetzt polemisch – alles Essays verfügen über solche Überschriften …
Kein Buch, um es von vorn bis hinten zu lesen, aber eine wirklich spannende Fundgrube, denn neben eher unbekannten Autorinnen kommen auch eher unbekanntere Werke zu ihrem Recht.
Anstoß für diese Art der Sortierung ist laut David E. Wellbery im Vorwort das Wort von Paul Celan, dass jedes Gedicht datierbar sei. Das mache deutlich, dass Literatur geschichtlich ist und zwar nicht in dem Sinne, wie in Literaturgeschichten oft vermittelt, nur im literaturhistorischen Kontext, sondern quasi absolut. Deshalb die Zuordnung konkreter Daten, darum die Einbettung ins historische Umfeld. So kommen neben besagten eher unbekannten Texten und Autorinnen auch unbekannte Aspekte bekannter Texte und Autorinnen in den Blick. Das Buch ist chronologisch aufgebaut, so dass ich, wenn ich an Literatur um 1800 herum interessiert bin, für diese Zeit mehrere unterschiedliche Beiträge finden kann, die mir die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen vor Augen führen:
- Alexander von Humboldt und seine Reiseerfahrungen mitsamt der Kritik am Kolonialismus
- Novalis als Prophet des Übernatürlichen in der Romantik
- Friedrich Schlegel und der Beginn von Literaturgeschichte und -kritik
- Mythologie als Thema der Zeit
- Voss‘ Übersetzung des Homer
Dieses Nebeneinander geht bei anderen Darstellungen schon mal unter.
Die Essays sind von unterschiedlichem Stil – mal sehr wissenschaftlich, mit Fachvokabular und elaborierten Sätzen, mal eher „essayistisch“ locker – doch alle setzen literarische oder literaturhistorische Vorkenntnis und Interesse an der Sache voraus, ja auch historische Kenntnisse schaden nicht.
Ich bin ziemlich begeistert. Einen Wermutstropfen gab es für mich aber schon auf der ersten Essay-Seite: Da steht allen Ernstes „Franfurt am Main“ … Man sehe es mir nach, dass ich das Buch, dessen Vorwort mich so gefesselt hatte, dann erst mal eine Weile scheel von der Seite ansah, bis ich mich wieder dran traute; aber Schnitzer dieses Kalibers sind Gott sei Dank die Ausnahme!
Ach übrigens: Wie Sie am Namen des Herausgebers schon sehen können, ist das kein „deutsches“, sondern ein amerikanisches Projekt. Das Werk erschien erstmals – auf englisch – 2004 bei der Berliner University Press, das Copyright liegt bei Menschen von Harvard.
David E. Wellbery (Hrsg.): Eine neue Geschichte der deutschen Literatur, übersetzt von Christian Döring, Volker von Aue, John von Düffel, Peter von Düffel, Helmut Ettinger, Gerhard Falkner, Sabine Franke, Herbert Genzmer, Nora Matocza und Peter Torberg, Lambert Schneider Verlag, Darmstadt, 2015, ISBN: 97833650400352
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