Ein kurzer Text – knapp 60 Seiten, großzügig mit viel Weißraum gesetzt – das ist diese tagebuchartige Erzählung von Annemarie Schwarzenbach. Ihr Großneffe erklärt in einem der Nachworte, wie dieser Text aus dem Nachlass im Archiv lagerte, bis er die rund 60 Seiten zum 100. Geburtstag – 2008 – zur Veröffentlichung vorbereitete. Auch ein spannender Einblick.
Was erzählt Annemarie Schwarzenbach?
Eine Coming-Out-Geschichte.
Der Text beginnt mit dem Satz, der auch der Titel wurde: „Eine Frau zu sehen …“ – der Satz geht weiter und weiter – in Abschnitte geteilt, drückt die Ich-Erzählerin aus, was da passiert: Das geänderte Bewusstsein, das Begehren,
Die Ich-Erzählerin verbringt mit Freundinnen und Verwandten die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester in einem Hotel in den Schweizer Bergen. Es herrscht Ausgelassenheit und Freizügigkeit. Musik und Tanz und Skiausflüge – Ferientage der Jeunesse d’orée. Und mittendrin die junge Frau, die durch eine kurze Begegnung im Aufzug aus dem Gleichgewicht gebracht ist.
Wie in einem Tagebuch schildert sie, was sie den Tag über so macht, mit wem sie spricht und tanzt. Und wer ihr mehr über die geheimnisvolle herbe schöne Frau sagt.
Ihr Verlangen wird deutlich. Ihre Sehnsucht bleibt den großen Teil des Textes ungestillt.
Annemarie Schwarzenbach holt mich mitten in das Gefühlschaos der jungen Frau, die erstmals spürt, dass eine Frau sie bezaubern kann, ihr Verlangen weckt. Ihre Gedanken mäandern, doch verliert sie ihr Ziel nicht aus den Augen:
Vielleicht würde auch heute ein Frau kommen, unsagbar schön war ja allein diese Wort – Frau – , seine Erfüllung was so voll stiller und trauriger Erwartung, so voll gläubigen Glücks, dass die Grenze des Wunderbaren sich dadurch forthob und Raum ließ für eine Tröstung, der ich mich sehnsüchtig zuwandte –
S. 45 f
Zusatzinfos zu Annemarie Schwarzenbach in den Nachworten
Das Bändchen ist in Neuauflage erschienen – und hat sich dabei ein zweites Nachwort des Großneffen Alexis Schwarzenbach zugelegt. Im ersten Nachwort geht es vor allem um die Provenienz dess Textes:
- Wo lag er?
- Wie war es mit der Rekonstruktion?
- Welche Anpassungen hat er vorgenommen?
Im zweiten Nachwort geht es um den Stil und die Lebensgeschichte Annemarie Schwarzenbachs. Und um die Verwandtschaft des Textes mit „Tod in Venedig“ von Thomas Mann. Der Generationenunterschied wird deutlich:
Thomas Manns Protagonist stirbt, seine Homosexualität darf nicht ge- und erlebt werden.
Annemarie Schwarzenbach, nur zwei Jahre jünger als Thomas Manns älteste Tochter Erika, lässt die Homosexualität ihrer Ich-Erzählerin als positives Erleben zu.
Hinzu kommen in der zweiten Auflage noch Fotos, die Annemarie Schwarzenbach von verschiedenen Frauen in ihrem Leben gemacht hat – private und professionelle als Reiseschriftsellerin. Auch Fotos, auf denen sie als junge Frau zu sehen ist, sind dabei, teils von ihrer Mutter fotografiert.
Ein wirklich ansprechender kleiner Band.
Annemarie Schwarzenbach: Eine Frau zu sehen, mit Nachwort(en) von Alexis Schwarzenbach, kein & aber Verlag, Zürich, 2020, 2. Auflage, ISBN: 9783036961033
Die Stadtbibliothek Köln hält die Erstausgabe vor.
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