Inhalt des Beitrags
Nachdem ich mir mit dem Klassiker „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood nun so viel Zeit gelassen hatte, konnte ich den Nachfolgeband direkt anschließen.
Was erzählt Margaret Atwood?
Dieses Mal handelt es sich um drei Geschichten:
- Ein Mädchen, das in Gilead aufgewachsen ist
- Ein Mädchen, das aus Gilead entführt worden und in Kanada aufgewachsen ist
- Tante Lydia.
Jede dieser Figuren berichtet aus ihrem Leben; zusammen ergeben sie ein Puzzle, das – so viel darf verraten werden, ohne zu spoilern – zum Ende der Republik Gilead führen wird.
Agnes Jemima
Agnes Jemima wächst in Gilead auf. Ihre Mutter Tabitha erzählt ihr als kleinem Kind immer, wie sie sie ausgewählt habe und wie sehr sie sie liebe. Tabitha stirbt, Agnes Jemima bekommt eine Stiefmutter, die wie im Märchen etwas gegen das Mädchen hat.
Peu à peu erfährt Agnes Teile ihrer Geschichte: Sie ist die Tochter einer Magd, die Gilead nicht nur verlassen, sondern auch verraten hat.
Daisy, Nicole, Jade
Daisy lernt in der Schule eine Menge über Gilead und entwickelt eine große Antipathie gegen den Nachbarstaat. Ihre Eltern Melanie und Neil halten sie viel zu Hause. Im Altkleiderladen der Mutter hilft sie mit, wenn sie nicht in der Schule ist.
Ihre Eltern werden mit einem Bombenattentat getötet und Daisy sieht sich auf einmal in der Situation, nach Gilead gehen zu sollen, um gegen das Regime zu arbeiten.
Das mit den Namen ist bei ihr nicht so einfach …
Tante Lydia
Die kenne ich schon aus dem „Report der Magd“. Margaret Atwood hat hier eine schillernde Figur geschaffen. Tante Lydia erzählt von den Anfängen der Republik Gilead und wie sie es auf die Position geschafft hat, auf der sie nun fast unbeschränkte Macht ausübt – auch wenn so was für Frauen gar nicht vorgesehen ist.
Den Abschluss bildet auch in diesem Buch eine fiktive Forschungskonferenz im 22. Jahrhundert – hier werden noch ein paar Informationen nachgereicht.
Wie erzählt Margaret Atwood?
Ich habe ihren Stil ja schon im letzten Beitrag gelobt. Ich hatte das Buch auf Englisch begonnen und da hatte ich ein paar Probleme mit dem dann fehlenden Sog durch die wechselnden Perspektiven. Das ist aber meinen Englischkenntnissen und nicht dem Stil von Margaret Atwood anzulasten.
Sie ist sehr genau und sehr ironisch und durchaus poetisch. Ein paar Beispielsätze:
Die Krokusse sind geschmolzen, die Osterglocken sind zu Papier geschrumpft, die Tulpen haben ihren verlockenden Tanz aufgeführt, ihre Blütenröckchen einmal auf links gedreht und dann fallen gelassen.
S. 157
In der frühlingshaften Luft lag ein goldenes Flirren, wie so oft in dieser Jahreszeit: Staub oder Pollen. Die Blätter der Bäume hatten diesen besonderen Glanz, so frisch und gerade eben entfaltet; wie Geschenke, die sich selber auspacken, erstmals vom Wind erfasst.
S. 328
„Leider sind die Agenten in Kanada unter der Führung unserer Augen jung und idealistisch und explosionsbegeistert.“
S. 195
– das sagt Tante Lydia über den Anschlag, bei dem Daisys „Eltern“ umkamen.
„Ich kann allein gehen!“, sagte ich, was aber keinerlei Eindruck auf die Hände an meinen Oberarmen machte, eine auf jeder Seite.
S. 204
– hier geht es um eine Szene aus den Anfangszeiten Gileads und es ist wieder Tante Lydia, die spricht.
Es gibt Kollegen, die die Meinung vertreten, dass Personen dieser Altersgruppe sogar besonders geeignet seien für Unterfangen dieser Art, da die Jugend idealistisch sei, kaum ein Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit habe und übertrieben nach Gerechtigkeit dürste.
S. 559f
– es spricht der Historiker im 22. Jahrhundert über den Einsatz junger Menschen für politische Aktionen
Margaret Atwood hat auch eine lakonische Art „Lebensweisheiten“ zu vermitteln, die mir gefällt:
Ein Mensch allein ist kein vollständiger Mensch.
S. 208
Ich hatte große Freude an dem Buch. Und damit stehe ich nicht allein: 2019, im Erscheinungsjahr, hat Margaret Atwood für diesen Roman den Booker Price verliehen bekommen.
Es gibt allerdings auch ein paar Anachronismen: Wenn „Der Report der Magd“ in den 80ern spielt, müsste „Die Zeuginnen“ so um 2003, 2004 herum stattfinden. Der Begriff „iced latte“, den Daisy so normal nutzt, war zu dem Zeitpunkt aber noch gar nicht in aller Munde – Google Trends gibt erst ab 2006 für Kanada ein paar erste Erwähnungen an. Das ist natürlich kein vollgültiger Beleg, ist mir aber etwas störend aufgefallen.
Margaret Atwood: Die Zeuginnen, übersetzt von Monika Baark, Piper Verlag, München 2019, ISBN: 9783492316651
Die Stadtbibliothek hat das Buch in mehreren Ausgaben, auch als Hörbuch liegt es vor.
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