Die Welt von Aquae Calicis – Interview mit Maike Claußnitzer

Die Welt von Aquae Calicis – Interview mit Maike Claußnitzer

Da ich die Geschichten von Maike Claußnitzer sehr mag, hab ich ihr ein paar Fragen rund um ihre selbst erschaffene Welt mit Aquae Calicis im Zentrum stellen können. Wir kennen uns zumindest virtuell – deshalb sind wir auch per Du.

Liebe Maike, die Bücher sind ja in anderer Reihenfolge als der chronologischen erschienen, nämlich:

  • Tricontium
  • Greifen, Grabraub und Gelichter
  • Rattenlied
  • Die Teeräuber
  • Immergrün und Walküren

Richtig?

Richtig.

Drei Vignetten schwarz-weiß, im Kreis angeordnet mit keltisch anmutenden Verzierungen als Unterngrund: Ein Wolf mit Augenkklappe, ein Schild mit Drache, ein altes Buch mit Tintenfass udn Federkiel
Jede der drei Vignetten kommt über den einzelnen Kapiteln in Tricontium vor. Ich mag den einäugigen Wolf sehr … Copyright: saje design, Sameena Jehanzeb

Dabei sind gerade bei den Geschichtensammlungen auch Geschichten von „früher“ dabei. Als Leserin kann ich die Zeitebenen wechseln. Und komme doch immer wieder in die Geschichten hinein – das kann ich bezeugen, denn meine Lektürereihenfolge war nun völlig unorthodox: weder in der Reihenfolge des Erscheinens, noch in der der Handlungsreihenfolge in Aquae Calicis selber.

Meine Fragen zur Welt von Aquae Calicis

Wie vollständig war deine Aquae-Calicis-Welt, als 2013 Tricontium erschien?

Wirklich vollständig wird meine Welt wohl nie sein; mit jedem Buch kommen neue Details hinzu. Aber das Erscheinen von Tricontium 2013 hatte einen langen Vorlauf, da ich mit der Arbeit an dem Roman und damit auch an der zugehörigen Welt schon 2005 begonnen hatte. Auslösend dafür war 2004 die Lektüre eines Artikels über eine damals in Frankreich gezeigte Ausstellung, Mérovingiens dans le Jura, der mir Lust darauf gemacht hat, eine in spätantiken bis frühmittelalterlichen Zeiten angesiedelte Fantasygeschichte zu schreiben. Ich hatte bis zur Veröffentlichung des Romans also schon Gelegenheit, die Grundzüge dieser Welt auszuarbeiten und von Tee bis hin zu Gespenstern und Greifen so manches einzubauen, das nicht mehr viel mit den Merowingerfunden zu tun hat, die mich ursprünglich einmal inspiriert hatten.

Wusstest du schon so viel über die einzelnen Figuren, wie ich als Leserin im Lauf der Zeit erfahre? Welches Personal hat sich erst im Lauf der Zeit entwickelt, bzw. dazu geschmuggelt?

Nicht in allen Fällen. Mit den Figuren ist es wie mit der Welt, in der sie sich bewegen: In jeder neuen Geschichte kommen ein paar Einzelheiten hinzu. Während das bei den wiederkehrenden Hauptfiguren, die ich damals schon recht gut kannte, eher eine allgemeine Weiterentwicklung bedeutet, gibt es auch Nebenfiguren, die in Tricontium nur einmal kurz erwähnt werden und in späteren Texten eine wichtigere Rolle übernehmen. So kommen z. B. der Kleinkriminelle Toste oder die Kriegerin Mathilde in Tricontium schon am Rande vor, sind aber noch keine sehr ausgearbeiteten Charaktere. Das hat sich mittlerweile geändert.

Zu anderen Figuren ist mir die Idee überhaupt erst später gekommen. Die Söldnerin Ratte etwa taucht erst im Roman Rattenlied auf, hat aber inzwischen ihren dauerhaften Platz am Rande des seit Tricontium bestehenden Ensembles gefunden.

Wie hältst du es mit dem Plotten und  der Niederschrift? Als Nicht-Roman-Autorin habe ich schon ernsthaft erwogen, ob du erst alles in der chronologischen Reihenfolge festhältst und danach die Handlung mit den eingefügten Erzählungen fertig machst.

Zur Vorbereitung nutze ich Notizbücher, aber ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, dass ich dabei so geordnet vorgehe, wie du es mir netterweise zutraust! Bei einer neuen Geschichte lege ich vorab Anfang und Ende fest, aber wie genau der Weg dazwischen verlaufen soll, plane ich nur in groben Zügen, um auch spontanen Einfällen nachgeben zu können.

Beim eigentlichen Schreiben gehe ich nicht immer chronologisch vor. Dabei hilft es mir sicher, dass mir Welt und Figuren wichtiger sind als der jeweils aktuelle Plot, so dass ich eine Art Grundgerüst (fiktiver) historischer Ereignisse und biografischer Daten im Hinterkopf habe, auf das ich bei Bedarf zurückgreifen kann. Im Zweifelsfalle muss sich die Handlung dem anpassen, nicht umgekehrt.

Zwei Welten treffen in Aquae Calicis aufeinander – nein, koexistieren

Das bezog sich jetzt alles eher auf die „echte“ Welt – wie sieht es mit der magischen Welt aus?

Die magische Welt soll die „echte“ ergänzen, aber ihre Gesetzmäßigkeiten nicht beliebig aushebeln. Ich mag Gespenster, Fabelwesen und einen Hauch von Zauber sehr gern und glaube, dass sie dazu beitragen können, eine Geschichte unterhaltsamer und unvorhersehbarer zu machen. Allerdings möchte ich um keinen Preis, wie es in vielen Fantasyromanen geschieht, Magie als Allheilmittel einsetzen, weder im übertragenen noch im wörtlichen Sinne.

Hat das Geistersehen im Lauf der Geschichten an Bedeutung gewonnen?

Ja und nein. Eigentlich spielt es schon in Tricontium eine zentrale Rolle: Wenn der Krieger Ardeija, eine der drei Hauptfiguren, gegen Anfang des Romans nicht vom Geist des Fürsten Gudhelm um Hilfe gebeten würde, könnte sich die Handlung nur teilweise so entwickeln, wie sie es tut. Was sich im Laufe der Zeit verändert hat, ist das Ausmaß, in dem die Figuren, aus deren Sicht wir das Geschehen verfolgen, selbst Geister wahrnehmen. Durch die personale Erzählperspektive ist, anders als mit einer allwissenden Erzählinstanz, der Blick auf die geschilderte Welt begrenzt. Bestimmte Figuren, die in Tricontium noch nicht dazu in der Lage sind, lernen in späteren Büchern das Geistersehen, und damit werden die Geister natürlich auch beim Lesen sichtbarer.

Tja, Tricontium habe ich erst vor einiger Zeit gelesen …

Deine Greifen sind ja großartig – ich mag die Sperlingsgreifen sehr: Wie bist du auf diese Unterarten gekommen? In der bekannten Mythologie sind das ja eher großmächtig beeindruckende Wesen (jedenfalls hab ich sie mir immer so vorgestellt).

In der Mythologie ist das in der Tat der Fall. Es gibt sogar aus der Skythenzeit auf einem goldenen Schmuckstück, dem sogenannten Pektorale von Tolstaja Mogila, eine Darstellung, in der Greifen groß und gefährlich genug sind, um Pferde zu erlegen (aus meiner Sicht kein sehr sympathischer Zug). Die Sperlingsgreifen sind, wie der Name schon verrät, von  Spatzen inspiriert und daher ebenso Kulturfolger. Ich fand die Vorstellung einfach nett, eine allgegenwärtige kleine Sorte von Fabelwesen zu schildern, die für die Menschen etwas ganz Normales sind und dadurch auch unterschwellig deutlich machen, dass die dargestellte Welt eine alltägliche magische Komponente hat.

Die etwas größeren Steppengreifen sind näher am mythologischen Vorbild, aber auch noch relativ handlich. Hier war der Hintergedanke, im eurasischen Steppenraum eine Greifenart anzusiedeln, die ein Ausgangspunkt für Vorstellungen gewesen sein könnte, wie man sie etwa in der antiken Überlieferung über Greifen findet, aber natürlich eigentlich viel unspektakulärer ist als die wilden Geschichten, die man sich über sie erzählt.

Auch Gjuki als handzahmer und handlicher Drache ist bezaubernd.

Ich habe den Eindruck, du könntest bei allen diesen Wesen die gängigen Mythen über sie „gegen den Strich gebürstet“ haben – also das Bedrohliche rausgenommen z. B. Stimmt der Eindruck?

Der Eindruck trifft zu. Dahinter steckt zum Teil auch der Spaß daran, niedliche und zutrauliche Fabelwesen zu beschreiben, die noch dazu über durchaus praktische Eigenschaften verfügen. Gjuki beispielsweise eignet sich, da Drachen ja nun einmal viel inneres Feuer haben, als selbstbeheizende kleine Wärmflasche zum Mitnehmen, eine Vorstellung, die mir gerade bei diesem trüben Novemberwetter sehr behagt.

Aber der eigentliche Grund dafür, dass Fabelwesen und letztlich auch Gespenstern in meinen Geschichten das Bedrohliche fehlt, geht noch tiefer. Bei Fantasy, Sagen und Märchen habe ich oft das Gefühl, dass das Böse gern in nichtmenschliche Wesen oder in schon Verstorbene hineinprojiziert wird, um sich nicht der unbequemen Tatsache stellen zu müssen, dass das Bedrohlichste, was einem Menschen begegnen kann, oft andere Menschen sind. In der realen Welt gibt es selbstverständlich auch viele Gefahren aus der Natur: Das Coronavirus und Ereignisse wie die Flutkatastrophe in diesem Sommer oder der noch andauernde Vulkanausbruch auf La Palma beweisen es uns ja gerade.  Doch das Virus, das Wetter und der Vulkan wissen es eben nicht besser, während zielgerichtete Bedrohungen in aller Regel von unseren Mitmenschen oder gar von uns selbst ausgehen.

Die Eigenschaften, die einen Menschen gefährlich machen können, auf einen Drachen oder einen Greifen abzuwälzen, erscheint mir ungerecht und – soweit man das bei Fantasy überhaupt sagen kann – in gewisser Weise auch unwahr. Deshalb funktioniert die übernatürliche Welt in Aquae Calicis nach einem ganz einfachen Prinzip: Solange man sich selbst anständig verhält und gewisse Spielregeln respektiert, hat man von Drachen, Gespenstern und sogar Bocksdämonen wenig zu befürchten. Wenn man sie allerdings durch eigenes Fehlverhalten provoziert, sollte man mit allem rechnen.

Ich mag die anderen Rollenklischees in deinen Büchern – Frauen, die in vertrauter Runde mit ihren Männereroberungen prahlen, Männer, von denen ein gewisser Aufwand an Deko verlangt wird.

Eine Rose in einem Wappenschild, gehalten von Blumenranken; schwarz-weiß
Mit dieser Vignette wird die Geschichte Eine gelbe Rose aus Immergrün und Walküren eingefürt. Copyright: saje design, Sameena Jehanzeb

Zur Einführung von Papier und Tee hast du mir ja bereits einmal Rede und Antwort gestanden .

Was ist dir an deiner Welt wichtig? Auch wenn sie in einer magisch angehauchten Vergangenheit spielen, habe ich den Eindruck, deine Geschichten hätten utopisches Potential …

Einen Teil dessen, was mir an meiner Welt wichtig ist, habe ich ja in der Antwort auf die vorherige Frage schon skizziert. Ob sie tatsächlich „utopisches Potential“ hat, weiß ich nicht, denn auch wenn sie in Sachen Geschlechterrollen unserer Welt ein Stück voraus ist, gibt es ja vieles, um das es nicht ideal bestellt ist. In mancherlei Hinsicht ist es sogar eine etwas pessimistische Welt, denn die Erfahrung, sich mit Ehrgeizigen und Rücksichtslosen arrangieren zu müssen und nicht einfach alle Widrigkeiten und Ungerechtigkeiten beseitigen zu können, machen meine Figuren immer wieder.

Aber vielleicht liegt gerade darin auch die Hoffnung. Eine Leserin hat einmal ihr Unverständnis darüber bekundet, dass der hauptsächliche Antagonist am Ende von Tricontium nicht einfach getötet wird. In der Tat ist es ja nicht nur in der Fantasy, sondern auch in vordergründig realistischen Romanen durchaus beliebt, mit derart brachialen Methoden alles wieder ins vermeintliche Lot zu bringen. Was das betrifft, bin ich skeptisch. Doch wenn man eben nicht mit einer simplen (und, nebenbei bemerkt, auch ziemlich blutigen) Handlung alle Probleme lösen kann, eröffnet das den Blick auf die kleinen Dinge, auf die man sehr wohl Einfluss hat. Man wird nicht unbedingt das riesenhafte Ungeheuer – ob nun in Menschengestalt oder nicht – besiegen, aber mit dem handlichen Drachen kann man sich anfreunden, wenn man sich darum bemüht: Das ist wahrscheinlich das Wichtigste an meiner Welt.

Liebe Maike vielen Dank für deine Antworten! Ich freu mich schon auf den nächsten Band, der in Aquae Calicis und Umgebung spielt – angekündigt hast du ihn bei Twitter ja schon.

Die hübschen Illustrationen zu allen Bücher und insgesamt die Buchgestaltung stammen von Saje Design – das ist jetzt quasi Werbung, aber ich finde, die gute Gestaltung eines Buchs muss auch gewürdigt werden. Und ich freue mich, dass Teile davon hier zur Illustration heranziehen darf.

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

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