Ein 700-Seiten-Schmöker mit Karl-May-Qualitäten …
Kein Spaß: Es gibt einen Erzählstrang, der an Mays Münchmeyer-Romane erinnert – mit geheimnisvollen Räumen, Verschwörung und äußerst entschlossenen Bösewichten. Und wer weiß, wie sehr ich Karl May schätze, weiß auch, dass die Bemerkung keine Abwertung ist!
David Mitchell hat hier ein opulentes Werk geschaffen, gespickt mit historischen Einzelheiten, mit uns westlich orientierten Menschen exotisch anmutenden Gedanken und Bräuchen, mit einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte und mit einem Spannungsbogen eben à la Karl May.
Ort der Handlung ist Dejima, der einzige europäische Stützpunkt im ansonsten abgeschotteten Japan. Die Handlung setzt im Jahr 1799 ein. Der im Titel genannte Jacob de Zoet ist die eine Hauptfigur – abgesandt, um Korruption und Betrug in diesem östlichsten Stützpunkt der holländischen Handelsgesellschaft aufzudecken und zu unterbinden. Er gerät mit seiner – natürlich! – Rechtschaffenheit in ein Geflecht verschiedener Interessen, profit- und machtorientierte. Sowohl Niederländer als auch Japaner sind in unterschiedlicher Weise involviert. Und der aufrechte Jacob mittenmang …
Die andere Hauptfigur ist Orito, eine japanische Hebamme, die mit ihren angelesenen Kenntnissen westlicher Geburtshilfe am Anfang des Buches Mutter und Kind rettet – beide Angehörige eines mächtigen Mannes. So kommt es, dass Orito als einzige ehrbare (!) japanische Frau Dejima betreten kann, denn ihr ist es nun erlaubt, beim niederländischen Arzt zu lernen.
Zwischen Jacob und Orito entwickelt sich ein feines Beziehungsgespinst – sehr fein. Für Außenstehende kaum zu erkennen.
Diese menschliche Grundkonstellation wird nun aufgefüllt mit historischen Einzelheiten. Die Fremdheit zwischen den Kulturen ist spannend – und die Fähigkeit oder Unfähigkeit einzelner im Buch, diese zu überwinden. Auf beiden Seiten. David Mitchell kennt sich aufgrund seiner eigenen Biographie in Japan und seiner Geschichte, seinen Sitten und seiner Gedankenwelt gut aus. Er hat hier nicht einfach ein bekanntes Muster mit ein paar Fakten unterfüttert, sondern Kulturgeschichte erlebbar gemacht.
Denn der Aufzählung von oben zum Trotz, die zugegebenermaßen damit spielte, lauter Klischees zu provozieren: Das Buch ist spannend. Es ist mitreißend erzählt. Es ist kenntnisreich sowohl was die historischen Fakten als auch was die menschlichen Grundbedürfnisse und Leidenschaften betrifft. Für mich war es eine sehr lebendige Ergänzung zu „Raumschiff Japan“ von Hisako Matsubara. Ich habe das Buch an einem Wochenende durchgeschmökert und es genossen. Es ist eine spannende Lektüre für Menschen, die an Geschichte allgemein, an Japan im Besonderen oder an der Entwicklung von Handelsbeziehungen im ostasiatischen Raum zur Zeit des beginnenden Kolonialismus interessiert sind. Krimi- und Dramaliebende kommen ebenfalls auf ihre Kosten.
David Mitchell: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet, übersetzt von Volker Oldenburg, Rowohlt, Reinbek 2012, ISBN: 9783498045180
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